Alle zeigen - Bericht von Matthias C.S. Dreyer zum Lauftage 100 KM Biel-Bienne:
Matthias C.S. Dreyer , 25.12.2004

Biel 2004 - 100 Kilometer

„Einmal muss jeder Läufer nach Biel“, so titulierte der legendäre Kommentator und Läufer Werner Sonntag in seinem Buch (Ergebnis 2004: 1. in der Altersklasse M75/16:37). Mittlerweile gehört er zum alten Eisen dieses 100 Kilometer-Laufs im Umfeld der deutsch/französisch-sprachigen und multikulturellen Stadt.

In diesem Jahr hatte der TV Maikammer mit fünf Startern einen neuen „Teilnahmerekord“ zu verzeichnen. Unter ihnen der „alte“ Hase – mit 9 Teilnahmen – Erich Stachel, Martin Höchst, mit 4 Teilnahmen, Josef Willerich, Jürgen Gotterbarm und Matthias Dreyer jeweils zum ersten Mal am Start.

Zur Anreise nach Biel hatten sich diverse Fahrgemeinschaften gebildet, das Bedürfnis, vor dem Lauf vom 11. auf den 12. Juni 2004 etwas von Biel zu sehen und nach dem Lauf Ruhe vor der Heimfahrt zu genießen, waren unterschiedlich ausgeprägt. So waren Martin Höchst und Matthias Dreyer bereits am Donnerstag vor Ort und sicherten sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten einen Standplatz für das Wohnmobil, wie er schöner nicht auf einem Campingplatz zu finden gewesen wäre. Umgeben von vielen anderen Laufenthusiasten konnten Stühle und Tisch aufgebaut werden und einige warme Sonnenstrahlen waren in der Lage, die angespannten Gemüter zu erwärmen.

Pünktlich kurz vor dem Start trafen sich die Maikammerer und ihre Helfer, Sonja Schwarzwälder, Kurt Höchst und Alfons Blumenstiel zum obligatorischen Startphoto. Rechtzeitig hatte der Himmel aufgeklart, die Wolken und der Regen hatten sich zunächst verzogen. Dann zur Zielaufstellung, der übliche Geruch nach Massageöl, Menthol, Arnika machte sich breit, Läufer in langen Hosen, in kurzen, mit Jacken, ohne, mit Mütze, mit Wasserrucksäcken, mit Verpflegungsgürteln, mit Lampen, ich war ob der Vielfalt erstaunt, und mir ging durch den Kopf, es muss wohl so sein: egal was du anhast, du kannst völlig daneben liegen.

Fast pünktlich um 22.00 Uhr fiel dann der ersehnte Startschuss und mehr als 1.600 Läufer begaben sich auf die Strecke. Interessierte, die den Lauf bereits seit Jahren verfolgen, wissen, dass mit der 46. Auflage im Jahre 2004 eine Streckenänderung anstand. Ziel der Veranstalter war es, noch mehr durch Ortschaften zu laufen, die den Wettkämpfern optimale Unterstützung aus den Reihen der Bewohner liefern sollten. Und dies traf in der Tat ein. Insgesamt wurden mehr als zwanzig Ortschaften passiert und selbst mitten in der Nacht, ob 2.00 Uhr, 3.30 oder 5.00 Uhr, überall war etwas los. Hier ein Grillfest, dort eine Party, eine offene Gaststätte, die Begeisterung im Berner Mittelland kannte fast keine Grenzen, immer wieder waren „Allez, hopp, hopp, hopp“, „Du schaffst es“, „Du bist der Größte“ und andere nicht verständliche Anfeuerungsrufe auf schwyzerdütsch zu hören.

Unmittelbar nach dem Start mussten zunächst einige Kilometer in Biel absolviert werden. Es war schwül, ich erinnere mich an zwei stark schwitzende Italiener, die lustig plaudernd neben mir trabten. Getragen von einer Welle der Begeisterung näherten sich die Läufer, nach Durchquerung der Innenstadt, dem ersten Anstieg in Port. Eiserne Disziplin war gefordert, nicht dass der Anstieg steiler gewesen wäre, als wir es von der Kalmit her kennen, aber die Versuchung, ob der vielen Zuschauer und der lauten Rufe, Gas zu geben und somit viel zu schnell loszulaufen, war enorm groß. Und das hatte ich mir gut gemerkt aus Gesprächen mit erfahrenen Teilnehmern, „erstens gute Einteilung“ und „zweitens Ankommen als oberstes Ziel“ sind die Geheimnisse dieses Laufes.

Langsam löste sich das Starterfeld auf, nach und nach konnte der eigene Schritt aufgenommen werden. Es ging über Jens nach Aarberg, über eine Holzbrücke auf den Marktplatz, gesäumt von vielen Fans, es folgten Grossaffoltern, Oberramsern, Balm, kleine beschauliche Dörfer mit typischen Berner Bauernhäusern, sehr gepflegt und bestens in Schuss, was selbst bei Dunkelheit auszumachen war. Und es war dunkel, stockdunkel. Nur die Straßenlampen der Ortschaften brachten etwas Licht. So plätscherte das Laufen vor sich hin, bis bei Kilometer 20 plötzlich die Begleitmannschaft des TV Maikammer auftauchte, mir zujubelte und fotografierte. Später wurde mir klar, warum wir zusammengetroffen sind, obgleich vereinbart war, dass ich, angesichts meiner prognostizierten Zielzeit von 14:00 Uhr und des somit zu erwartenden Rückstands auf die anderen schnellen Maikammerer, ohne Unterstützung laufen müsste und das auch wollte. Ich lag nämlich nicht sehr weit hinter meinem Laufkamerad Martin Höchst.

So zogen sich die Kilometer hin, unterbrochen von Verpflegungsaufnahmen an insgesamt 9 Stationen, die professionell bestückt waren mit Wasser, Iso-Getränken, Tee, Bananen, Orangen (später auch mit Bouillon), Brot und diversen Sportriegeln. Ortschaften kamen und gingen, Waldpassagen wechselten mit Wirtschaftswegen und Asphaltstraßen ab, dunkel, dann wieder geblendet von der Stirnlampe eines Mitläufers, schließlich tauchten die Spitzenläufer des Nachtmarathons und der Staffel auf, im Großen und Ganzen ereignete sich vergleichsweise wenig bis nichts, außer Laufen, Laufen, Laufen. Es begann zu regnen, etwa bei Kilometer 50 – so genau weiß ich es nicht mehr. Erst leichtes Nieseln, dann sehr heftiger Platzregen, sozusagen volle Kanne, kaum weniger als eine Stunde lang. Nach einiger Zeit war ich klatschnass, das Wasser war überall auf und in den Kleidern, stand selbst in den Schuhen. Nach dem Regen erinnerte ich mich an einen zugeschnittenen Wertstoffsack, den ich zum Schutz vor Regen mitgenommen hatte. Jetzt als der Wind aufkam und ich zu frösteln begann, zog ich ihn über und er leistete mir bis ins Ziel (!) hervorragende Dienste.

Kurz nach Kilometer 60 begann der viel berüchtigte HoTschi-Minh-(Ho Chi Minh)Pfad, der Regen hatte sich verabschiedet, aber nach wie vor lagen dicke Wolken über uns und erschwerten die Sicht. Dieser Pfad ist gefürchtet, eine holprige Passage in der Aareaue führt über einen Damm voller Steine und Wurzeln, sehr unbequem zu laufen und höchste Aufmerksamkeit fordernd. Ich folgte zwei Damen aus dem Saarland, klar am Dialekt zu erkennen, die sich selbst und ich gestehe auch mich gut unterhielten. Per Handy standen beide im Kontakt mit ihren Männern, ihr persönliches Versorgungsteam, das nach Treffpunkt „Kilometer 70“ bestellt wurde, um frische Trikots zu reichen. An der nächsten Verpflegungsstation verlor ich die beiden zunächst aus den Augen.

Nach gut 70 Kilometern hatte ich eine Schwächephase und musste ein bis zwei Kilometer gehen und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich meinen Zeitplan völlig außer Acht gelassen hatte. Dabei war alles bis ins Detail geplant, ich hatte eine Tabelle vorbereitet mit den Durchlaufzeiten an den Versorgungsstationen und mit Kilometer/Zeitangaben. Ich hätte also sehr gut wissen können, wo ich wann sein musste. Nun lag ich exakt eine Stunde vor der Zeit. Ob das gut gehen konnte?

Nach etwa 2 Kilometern war ich – so merkwürdig das klingen mag - wieder erholt und konnte den Lauf fortsetzen. Nach weiteren 2 Kilometern sehnte ich das 75 Kilometerschild herbei, die Sonne kam heraus, es wurde warm. Wir zogen über eine lange Passage auf einer Nebenstraße in einer wunderschönen Landschaft. Es folgte eine weitere Ortschaft – Bibern – Zuschauer, die anfeuerten, dann ein weiterer Kontrollposten mit Zeiterfassung. Ein erneuter Anstieg und dann eine lange Strecke auf einer Straße durch herrlichen Wald, ich fasste neue Kräfte und lief mit Schmerzen in den Beinen, aber munter im Kopf, den achtzig Kilometern entgegen. Ich fasste den Entschluss, bei der nächsten Versorgung auf Cola umzusteigen, in der Hoffnung weitere Reserven freizusetzen. Zuvor hatte ich mich mit Bouillon und Brot, Wasser und Tee versorgt. Und, sieh an, wen treffe ich am Getränkestand, den Mitläufer Jürgen Gotterbarm, der ein kurzes „Wie Maikammerer“ von sich gab und im Weglaufen hörte ich noch etwas wie „jetzt wärd’s echt hard!“.

Und in der Tat, jetzt tat alles weh. Die Arme, die Beine sowieso, die Füße, Bänder, Sehnen, Knöchel, Knie, Schmerzen, heftige Schmerzen überall. Dennoch, insgesamt fühlte ich mich besser als befürchtet und zog Kilometer um Kilometer unter den Füßen durch. Längst war klar, das schaffe ich. Bei etwas mehr als Kilometerschild 85 sah ich vor mir die beiden Saarländerinnen, die nicht mehr liefen sondern marschierten, was mich zusätzlich anspornte. Es ging eine ganze Zeit lang an der Aare entlang, links Felder rechts Uferbewuchs und der Fluss, ich erreichte Büren. Wieder Feststimmung, durch ein Festzelt durch und ran an die letzten 12,5 Kilometer. Ich ahnte ja nicht, dass noch etliche Steigungen zu bewältigen waren, so dass nochmals die letzten Reserven mobilisiert werden mussten. Dann eine weitere Getränkestation am Rande eines Gewerbegebietes, ein Läufer, der die Vorbeikommenden anfeuerte und lautstark das 95 KM-Schild ankündigte, Balsam für den geschundenen Körper, dann das Schild – am liebsten hätte ich es umarmt - und nunmehr ging es mit Hilfe von Ein-Kilometertafeln zum Ziel, noch 5, noch 4...

Insgesamt erreichten 1.137 Männer und 201 Frauen das Ziel. Der schnellste Mann in 7 Stunden und 20 Minuten, die schnellste Frau nach 8:27. Nach 12:51:38 durchlief ich das Zielband, erhielt meine Medaille und freute mich, es geschafft zu haben. Sofort ging ich zur Eissporthalle, ich wollte mein Finisher-Shirt, noch vor dem Duschen. Danach trottete ich zum Wohnmobil und fand erstaunte aber jubelnde Maikammerer vor. „Wo kommst du denn schon her?“ „Vom 100-Kilometer-Lauf“. Ob das die richtige Antwort war?

Mein Resümee:
Ein Lauf, der sehr zu empfehlen ist, den Läufer sehr strapaziert und einiges voraussetzt:
- sehr gute Vorbereitung - für Läufer in meiner Leistungs- und Altersklasse halte ich einen Trainingsplan für erforderlich (1/2 Jahr), Ernährung sollte frühzeitig getestet werden
- Disziplin zur optimalen Einteilung (Zeiteinteilung nach Dauer-Leistungsvermögen)
- fester Wille zum Durchhalten (Nacht, Regen, Schmerzen, kein Warmduscherlauf)

Die Ergebnisse für den TV Maikammer:
Josef Willerich 9:24 (Rang 105, 36. in der Klasse M40)
Erich Stachel 11:07 (Rang 411, 23. in der Klasse M55)
Martin Höchst 12:37 (Rang 749, 111. in der Klasse M35)
Matthias Dreyer 12:51 (Rang 792, 182. in der Klasse M45)
Jürgen Gotterbarm 13:25 (Rang 866, 131. in der Klasse M35)

Der Termin für das nächste Jahr steht bereits fest, die Nacht von Biel findet vom 17. auf den 18. Juni 2005 statt.

Mehr zum 100-Kilometer-Lauf in Biel unter www.100km.ch, Trainingspläne und sehr gute Tipps erfahrener Bielläufer zur Vorbereitung unter www.laufreport.de



© Matthias C.S. Dreyer, 25.12.2004

Weitere Info's und Berichte zum Lauf:


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