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Alle zeigen - Bericht von Elisabeth Herms-Lübbe zum 1.E.ON Mitte Kassel Marathon:
Elisabeth Herms-Lübbe , 20.07.2007Ein ganz großer Wurf
Kassel hat nun wieder einen Marathon. In dieser Art und in dieser Größe war es der erste. Er hat schon am 10. Juni 2007 stattgefunden. Während der Zeit unmittelbar danach hat die Documenta die Köpfe in Kassel beschäftigt, meinen auch, deshalb die Verzögerung meines Berichtes auf dem Steppenhahn.
Ursprünglich war ja mal geplant, beides gleichzeitig stattfinden zu lassen, dann könne man ja einen Tag zur Kunst, den anderen laufen, auch hätten dann mitgenommene Begleiter der Läufer ein angenehmes Programm. Doch man hat zum Glück Abstand genommen von der Idee. Verkehrsmäßig wäre man sich sehr in die Quere gekommen. Und dann hätte Kassel zwei wahre Perlen von Veranstaltungen gehabt, und die hätten ausgerechnet gleichzeitig stattgefunden. Vor fünfzehn Jahren - damals hatte ich noch längst nicht zum Laufen gefunden - fand einmal ausgerechnet am Wochenende der Documentaeröffnung der traditionelle Kasseler Citylauf statt. Großes Chaos in der Innenstadt, Straßenbahnen umgeleitet, ratlose Kunstfreunde. Ich bin damals auf meinen Pumps durchs Läuferfeld gestöckelt und ich fand es sehr weltfremd, zu einem so glanzvollen Ereignis einen fitzeligen Volkslauf stattfinden zu lassen. Das war wirklich keine Werbung fürs Laufen. Jedoch ist das alles lange her.
Auch schon zu jener Zeit wurden in Kassel Marathons veranstaltet. Ein Verein hat sich pioniermäßig lange Jahre darum gekümmert, mehrere Runden durch die Fuldaauen und Kleingärten ("Ödlandmarathon"), hat dabei aber so wenig Unterstützung durch Stadt und Öffentlichkeit erfahren, dass die Aktivitäten vor geraumer Zeit eingestellt wurden. Sondergenehmigungen habe man teuer bezahlen müssen, wenn man sie überhaupt erhalten habe, ein ganzes Bündel von Behördenwillkür habe man ertragen müssen. In der Presse, die mächtig Stimmung für den neuen Marathon machte, wurde die lange Tradition in Kassel nie erwähnt. Dieser Verein war jetzt verärgert und hat nicht geholfen.
Dann, das war etwas später, gab es den Marathon Club Kassel, der auf mehr privater Ebene Sammelmarathons veranstaltete. Er hatte vier verschiedene Marathonstrecken, eine schöner als die andere, die wurden häufiger abgelaufen. Glücklich, wer dabei sein durfte, noch glücklicher, wer dieses Jahr noch immer dabei ist.
Mit dem Marathon verhält es sich offensichtlich so wie in der Atomphysik: eine kritische Masse muss erstmal überschritten werden, sonst gibt es keine Kettenreaktion, sonst geht es nicht rund. Und es ging rund in Kassel, auf hohem Niveau. Schon Monate vorher hat der bevorstehende neue Marathon die Läufer Kassels beflügelt und zu Extraaktivitäten hingerissen: es gab Vorbereitungsläufe, sogar auf der Originalstrecke, eine besondere Portion Begeisterung war überall zu spüren. Ich wohne in Kassel, und in der Zeit unmittelbar davor gab es keinen Smalltalk mehr ohne das Thema Marathon. Die Vorfreude und die Begeisterung waren groß, unter Läufern und unter Nichtläufern. Sogar unser Bäcker - er ist auch mitgelaufen - hatte einen Marathon aus Legemännchen für sein Schaufenster aufgebaut und ein Marathonbrot gebacken.
Die Streckenführung, das stand lange vorher fest, sollte sich nach verkehrstechnischen Gegebenheiten richten. Sie hatte nicht nur die Schokoladenseiten von Kassel dabei. Touristisch unambitioniert, wenn man sich mal vorsichtig ausdrückt. Wir Läufer aus Kassel hatten schon gelästert über die optisch etwas unschöne Strecke. Herrgott, wie viele hässliche Eisenbahnbrücken gibt es doch in Kassel! Aber jetzt muss man sagen, sie hat hervorragend funktioniert.
Überhaupt hat alles hervorragend funktioniert. Da gibt es nichts zu meckern, da waren Profis am Werk. Der Kopf des Marathons, Winfried Aufenanger ("Aufi"), früher Bundesmarathontrainer und jetzt Polizeichef im Ruhestand, hatte alles perfekt im Griff. Die Helfer waren zum großen Teil selber Läufer; es gibt ja so viele davon in Kassel, weil wir hier so paradiesische Laufmöglichkeiten haben, Parks, Wälder, idyllische Mittelgebirgslandschaft ohne Ende, wer da nicht läuft, ist selber schuld. Und die Messehallen als Basisstation waren so richtig schön geräumig für den Massenansturm der ungefähr 6000 Läufer aller Disziplinen, da passen noch mehr hinein.
Bei solcher Organisation war der Start natürlich pünktlich. Halbmarathonläufer starteten mit Marathonläufern gemeinsam, die einen hatten eine Runde vor sich, die anderen zwei. Dieses Konzept kann für die Zweirundenläufer problematisch werden: zu schnell in der ersten Runde, zu allein in der zweiten. Der Trend zum Halbmarathon war auch in Kassel deutlich.
Die große Überraschung kam schon bald nach dem Start: das Publikum war spitze, Zehntausende standen an der Strecke, so unsere Zeitung. Das hätte ich den Nordhessen nie zugetraut. Schon früh morgens waren sie zahlreich und gutgelaunt an den Straßen. Ganze Tische waren herausgeräumt worden, da wurde dann mit Zurufen und Applaus gefrühstückt. Und das ging immer weiter so, manchmal mehr, manchmal weniger Leute an der Strecke, alle gut aufgelegt. Musik gab es manchmal, sogar eine Hymne für den Kassel Marathon, Sambagruppen, Cheerleader machten ihre Show. Es gab sehr oft Wasser, sowohl in Bechern als auch von oben aus Duschen von Feuerwehrwagen. Das war auch nur gut so, denn schon bald wurde es ordentlich warm.
ch genoss es sehr, bei meinem Heimspiel so viele bekannte Gesichter zu sehen: zahllose Sportsfreunde an den verschiedenen Verpflegungsstellen und als Streckenposten, Nachbarn, dazu als Überraschungsgäste unsere Briefträgerin, unser Elektriker und unser Fahrradhändler. Beim höchsten Punkt, bei km 13,5, wenige hundert Meter abseits von der Strecke, wohne ich übrigens. Bei km 15, in der hiesigen Kneipenmeile, musste ich erstaunt zweimal hinschauen: Hatte ich nicht den Sprecher mit dem Mikrofon, der fröhlich kommentierte und Durchhalteparolen ausgab, wenige Tage zuvor schon gesehen, als Leichenredner bei einer Trauerfeier? Da war er so gut gewesen, dass unsere Bekannten sagten, den will ich auch haben, wenn ich gestorben bin: eine Doppelbegabung, der Mann.
Ein Zuschauer trug ein Schild: "Ihr seit spitze". Mit t. Ein anderer kommentierte lautstark den Fehler. "Gibt schlimmere Wörter", grummelte der Träger.
Als ich die Strecke lange noch nicht halb geschafft hatte, kamen Radfahrer, angetan mit Polizeitrikots, und es hieß: "Bitte etwas zur Seite, die Spitze kommt". Und dann zogen sie auch vorbei, die schnellen Kenianer, allen voran der mit der Nummer 11, der schon vor
dem Start, als ich die Favoriten in den Messehallen fotografierte, siegesbewusst in die Kamera geschaut hatte: Francis Kiprop, der mit der erstaunlichen Zeit von 2:16,48 siegen sollte. Erstaunlich deshalb, weil die Strecke nicht ganz flach ist, so etwas gibt es in Kassel nicht. Die Strecke ging am Rathaus vorbei, wo eine Tribüne war, von der aus in der ersten Runde jeder Läufer mit Namen begrüßt wurde. Dann war bald der schattige Auedamm erreicht, links die Fulda, rechts die Karlsaue, wo die Vorbereitungen zur Documenta ihrem Ende zugingen.
"Nur noch eine Kurve, dann hast du es geschafft", meinte jemand zu mir am Ende der ersten Runde. Das würde aber noch eine sehr umfassende Kurve für mich werden. Aber die meisten Läufer waren jetzt nach dem Halbmarathon im Ziel.
Die zweite Runde war dann nicht mehr ganz so schön, denn es wurde eine Brutzelrunde, und auf der Strecke selbst war nicht mehr so viel los. Das Publikum hat aber im Gegensatz zu manch einem Läufer durchgehalten. Nein, auf das Publikum lasse ich nichts kommen! Eine komplette Cheerleadergruppe zog ihr ganzes Programm nur für meine durchlaufende Wenigkeit ab! Da hab ich den Leuten häufig gesagt, dass sie ein ganz tolles Publikum seien, einer musste das ja mal sagen. Natürlich waren die Zuschauer nicht mehr so zahlreich. Aber im Gegensatz zum Beispiel zum Marathon in Fulda, der nach dem gleichen Prinzip organisiert war und wo man in der zweiten Runde mit verwunderten "Wo kommst du denn noch her?" - Blicken angestaunt wurde, waren noch welche da.
Manchmal überholte ich Läufer, die sich schon zu sehr verausgabt hatten, die schwitzen wie die Tiere und wanderten. 32 Grad waren es, und es gab nicht allzu viel Schatten.
Bald war meine Familie da und brachte mir für den Kreislauf Kaffee, ein Service, den man haben kann, wenn man fast neben der Strecke wohnt. Ich halte ja neben klarem Wasser und Milch Kaffee, Cola und Bier, letzteres schön kalt, für ideale Laufgetränke, ja, ich weiß, das ist undogmatisch, tut aber trotzdem verdammt gut in den richtigen Momenten.
Ungefähr eine halbe Stunde vor Zielschluss zog ein Gewitter auf. Da war ich dann aber schon fast da. "Du schaffst es, du schaffst es", sagten die Leute. - "Wenn ich nicht noch vorher vom Blitz erschlagen werde!"
Die letzten Kilometer vor dem Ziel gingen auf dem schattigen Auedamm parallel zur Fulda längs. Dort hat der Verein, der früher die Kassel-Marathons veranstaltet hat, sein Vereinshaus. Das hat Strom, das hat Kühlmöglichkeit, wäre der Verein nicht verärgert gewesen, hätte man dort die Läufer vielleicht gekühlte Getränke erhalten können. Seltsamerweise war der schattige Abschnitt kurz vorm Ziel die Kollapsmeile. Da sind die Läufer schlapp gemacht. Eine Frau sei sogar 20 Meter vor dem Ziel noch umgefallen, wurde mir erzählt.
Dann war ich im Ziel und bekam meine Medaille. In den Messehallen war gerade noch die Siegerehrung und die Würdigung der Organisatoren und Helfer. "Aufi" bekam ein Lob in Gedichtform zu hören, der Kassels Oberbürgermeister, auch er war gelaufen, war mit auf der Bühne. Die männlichen Sieger standen ein wenig abseits und hantierten verlegen mit den roten Rosen, die man ihnen gegeben hatte und mit denen sie nicht so recht etwas anzufangen wussten. Irgendwie war große Erleichterung und Zufriedenheit zu spüren. Organisatorisch und stimmungsmäßig hatte alles geklappt.
Ich konnte mich nur nicht lange aufhalten, denn auch ich musste zu den Sanitätern: nicht der Kreislauf, sondern eine Zecke. Da lauf ich nun immer in der Landschaft herum und meinen ersten Stadtmarathon seit Jahren, und ausgerechnet da befällt mich eine Zecke! Das muss wohl beim Abstellen meines Fahrrades passiert sein. Sie hatte sich noch nicht richtig festgebissen an meinem Fuß, der war ihr wohl zu unruhig gewesen. Die Zahl der Sanitäter beeindruckte mich, eine ganze Messehalle diente als Lazarett. "Wir haben den Platz gebraucht für die vielen Kreislaufprobleme", sagt mir ein Arzt. Reglos lag auf einer Trage eine Frau am Tropf, völlig blass. Da kann man mal sehen, Marathon laufen kann auch ungesund sein. Wahrscheinlich braucht man gute Instinkte, so dass man sich gar nicht erst so überlastet. Insgesamt mussten an diesem Tag 35 Sportler in Krankenhäuser gebracht werden, drei davon auf Intensivstation.
Wie das war mit den Umkleiden und Duschen, kann ich nun nicht sagen, denn es gibt schöne Badeseen bei den Messehallen. Da konnte man den Heldenschweiß abspülen, den Körper wieder auf normale Betriebstemperatur bringen und die Beine zur Abwechslung mal anders bewegen. Ich schätze es sehr, wenn man gleich nach dem Lauf schwimmen kann. Übrigens ist der See links ganz kurz vorm Ziel ein FKK-See, für Läufer, die gerade keine Badesachen dabei haben.
Ungefähr 1400 Läufer hatten sich für den ganzen Marathon angemeldet, ins Ziel kamen davon ungefähr 1150.
Zusammengefasst: alles sehr gelungen. Alle mal wiederkommen!
Nun noch mal zu dem anderen Glanzlicht, das Kassel in diesem Jahr zu bieten hat, zur Documenta. Als Läuferin habe ich da einen ganz großen Vorteil: keine müden Beine, keine schmerzenden Füße beeinträchtigen mehr den Kunstgenuss. Ich trage dabei auch keine Pumps mehr. Der einzige beschränkende Faktor ist das Gehirn, der irgendwann zu voll wird, aber das ja im Prinzip durchs Laufen gut durchblutet und gepflegt ist. Aber anders als beim Kassel Marathon gibt es bei der Kunst viele Planungspleiten: Wind und Regen demolieren Kunstwerke, und dort, wo die Natur mit einbezogen ist wie beim Mohnfeld, das nicht blühen will und bei den Reisterrassen auf heiklem Untergrund ("Bei uns sieht das viel grüner aus," sagen die sachkundigen chinesischen Gäste, "das wird doch wohl nichts mehr.") hat man sie nicht im Griff. Aber in absolut bewundernswerter, geistreicher Weise wird alles schön geredet, und die Presse macht mit. So wie sie den Marathon vorher und hinterher auf alle erdenkliche Arten positiv beschrieben hat. Trotz allem: auf der Documenta gibt es eine solche Fülle nie gesehener, eindrucksvoller Kunstwerke, die so gar nichts mit den Pannen zu tun haben, dass sich ein Besuch auf jeden Fall lohnt.
© Elisabeth Herms-Lübbe, 20.07.2007
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