Tritt ein, bring Glück herein

Stop, leider geschlassen!

 

Rainer M. Halmen zum Müritzlauf (12.09.2008) - Ultramarathon beim Steppenhahn (10.2000)
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Rainer M. Halmen , 12.09.2008

Einmal ist keinmal - oder?

Donnerstagabend reisen wir an.
Ein verpflichtungsloser Streunertag vorher, eine erholsame Übernachtung danach, ein Miniurlaub betten dieses Unternehmen in einen entspannten Rahmen. In der Pension, die ich nach Lage zum Start ausgesucht habe (5 Min. zu Fuß), hat man uns noch frisch geräucherten Saibling aufgehoben. Am nächsten Tag bummeln wir in Waren herum, entdecken eine bezaubernde Altstadt, nahezu autofrei, sitzen auf der Terrasse in einem Cafe hoch über der Müritz, schlemmen köstliche Baissertorte in Konkurrenz zu Wespen. Ist das optimale Laufernährung? Keine Ahnung - es schmeckt.
Nachmittags 1 Stunde Dampferfahrt auf der Binnenmüritz, der kleinen nördlichen Ausbuchtung um Waren. In der Höhe von Klink hat man einen Blick auf den See: weit entfernt im Dunst ein anderes Ufer, schemenhaft. Das ist Wahnsinn, soweit kann kein Mensch laufen. Da soll ich rum? Bin ich bekloppt? Der defätistische Schweinehund wird in den Zwinger zurückgescheucht. Wir finden zum Abendessen einen Sizilianer in der Altstadt mit lauschigem Innenhof, das Essen ist überraschend und richtig gut (Pasta, was sonst). Dann vertreiben uns die ersten Regentropfen. Noch bin ich optimistisch. So etwas Überflüssiges wie Regenjacke habe ich natürlich zuhause gelassen. Es ist Sommer, es ist August...

Samstags um 6 wälze ich mich aus den Federn. Blick nach draußen: Trocken! Nach dem Wolkenbruch gestern Nacht ein Lichtblick für den Optimisten. S. war von den Wassermassen so frustriert, dass ich sie aus allen vermeintlichen Verpflichtungen entließ. Du musst mich nicht begleiten, sagte ich, ich lauf auch allein.
Ich bringe meine üblichen Verdauungsrituale hinter mich. Um halb 7 steht S. auf – und ist erneut frustriert. Sie zeigt nach draußen. Sie hat mein und ich habe auch mein volles Mitgefühl: es gießt in Strömen. Ein schnelles Frühstück um 7:00, Sonderregelung, die übliche Zeit in der Pension ist ab 8. Rad beladen, S. leiht mir eine alte Motorrad-Regenjacke, die sie zufällig dabei hat. Sie gibt dreimal die PIN in ihrem Handy falsch ein, mit dem sie mit mir in Verbindung bleiben wollte, falls sie mich verliert.
Sinnlose Wut. An mir perlt alles ab.

Wir schlurfen zum Start. Unterwegs treffen wir einen Läufer mit Piratentuch. Ein Biel-Kämpe, wie er erzählt; die Harten übernachten in der Turnhalle im Massenquartier. Ich bin ein Pensions-Weichei. Als wir den Parkplatz queren, sehe ich Jan Prochaska, den Inhaber des Streckenrekords, aus dem Auto steigen. Der wird mindestens 2 Stunden schneller sein als ich. Vor kurzem waren wir gemeinsam Teilnehmer bei einem Stundenlauf. Ich rannte etwas über 12 km (bei 30°), er über 14 - das ist der kleine Unterschied.

Am Start drängeln sich die Ultras in einem Zelt, betrachten fatalistisch den heftigen Regen. Dann geht’s zum Startband, aufmunternde Sätze über die ganz besonderen Menschen, die sich nun in dies nasse Abenteuer stürzen... Und dann rennt, für mich völlig überraschend, die Meute los, als wäre das ein Halbmarathon. Auch hier zeigt die Analyse der Ergebnisliste: Eine ausgesprochen hochklassig besetzte Veranstaltung, 43 von 87 Läufern blieben unter 8 Stunden Std. Ok, ich bin gaaanz ruhig und trabe in meinem Tempo, S. bald neben mir, es gibt ein nettes Foto der Veranstalter von uns aus dieser Phase (http://picasaweb.google.com/mueritzlauf/WarenMRitz/photo#s5237788021328905026). Nach einer 1/2 Std. hört es auf zu regnen, die Motorrad-Regenjacke landet im Fahrradkorb.
Ich glaube, ich laufe eine gute 6:30er Pace. Ich hab mir ausgerechnet, dass ich mit diesem Tempo in 8:40 ankomme. Wenn ich 7er Pace laufe, bleibe ich knapp unter 9 Std. Wäre fürs Debut auch ok.

Eine Gruppe von Leuten immer wieder auf meiner Höhe. Ich verliere sie, wenn ich ins Gebüsch muss oder sie müssen. Die meisten lasse ich irgendwann hinter mir. Ein junger Mann, der mir an der einzig unklaren Wegstelle hilft, zieht doch irgendwann davon. Ich sehe später in der Ergebnisliste, dass er 35 Min. schneller war, ok., er startete in der M35. Ich werde ansonsten ein einziges Mal überholt, für mich ein Hinweis, dass ich richtig losgelaufen bin. Vor Röbel, da bin ich nun 4,5 Std. unterwegs, die erste volle Härte. Laufen auf der Strasse, ansteigend, mit heftigstem Gegenwind, der auf der Westseite des Sees noch ein paar, viel zu viele, Km ein hartes Hindernis bilden wird. Meine Radbegleiterin kann kaum schneller als ich, selbst wenn sie wollte. Trotzdem gelingt es mir, noch einige Läufer zu überholen. Nach 5 Std., die ich durchgelaufen bin, beschließe ich Gehpausen. Wie es die berühmten US-Ultras empfehlen: 5 Min. laufen, 1 Min. gehen. Man glaubt es kaum, aber das hilft. Es hilft, sich ein wenig zu regenerieren in dieser auch ultra, nämlich ultra-kurzen Gehpause. Dein Körper lechzt nach jeder dieser Minuten. Wenn du eine versäumst, weil irgendwas, z. B. deine getrübte Realitätswahrnehmung, dazwischen kam, leidest du wie ein Hund. Es hilft, eine Struktur und eine Aufgabe zu haben, wenn du nichts weiter wahrzunehmen scheinst als eine deiner schmerzenden Stellen. Du kannst dich auf die Uhr konzentrieren und weißt, was du zu tun hast: 5 laufen, 1 gehen, dieses Mantra bestimmt deine nächsten Stunden und bringt dich ins Ziel.

Sollte ich jemals in der Lage sein, einen Lauf dieser Länge ohne zu bewältigen, verzichte ich gerne darauf; bis dahin ist es Medizin fürs Überleben. In der Zeit zwischen 5,5 und 6,5 Std. denke ich oft an den Satz, den einer in der Jogmap-Community als Motto hat: „Geht es Dir während eines ULTRAS gut, mach Dir keine Sorgen - es geht vorbei.“ Soweit bin ich jetzt. Es ist vorbei mit leicht, locker lustig. In Sinuskurven, die im statistischen Mittel immer mehr fallen, schwankt meine Form. Mal heldenhaft und zuversichtlich und dann wieder kämpfend wie ein waidwunder Löwe. Ich wusste es, ich hätte 150 in der Woche laufen sollen in der Vorbereitung, ich hätte die langen Läufe eben doch bis 65 ausdehnen müssen – vorbei. Jetzt laufe ich, mein längster Trainingslauf war knappe 50 km in 5,5 Std. und genau da kommt der Einbruch. Mein Durchschnittspuls sinkt auf 64-65 % maxP, nicht weil mein Kreislauf schlapp macht, sondern weil ich muskulär, vom Bewegungsapparat her, nicht mehr in der Lage bin, schneller zu laufen. Wenn ich mich gut fühle, versuche ich, bis auf 70% zu kommen.
Eine der hässlichsten Erfahrungen aus dieser Periode: Ich laufe gern mit locker geschnürten Schuhen, besonders links. Immer wieder landen darin Steinchen. Mit zunehmender Streckenlänge, Zeitdauer, fällt es mir schwerer, mich zum Schuh öffnen, Stein entfernen, Schnüren zu bücken. Alles Tribut an den Ultramarathon-Gott.
Der Lauf ist einsam, S. bleibt immer wieder zurück, um Fotos zu machen, einmal besichtigt sie auch eine Kirche. Ab 5 Stunden schießen gelegentlich Staffelläufer in einem für mich irrwitzigen Tempo vorbei. Die freundlicheren ihrer Radbegleiter winken mit Daumen empor und rufen mir zu "Super-Leistung". In großen Abständen überhole ich jemanden, jedes Mal ein kilometerlanges Abenteuer, wie das Elefantenrennen der LKWs auf der Autobahn. Du siehst ihn weit vor dir, hast den Eindruck, dich meterweise ranzuschieben, ein Läufer auf der Pirsch, und dann – läuft er an der Verpflegungsstelle einfach weiter, geht nicht pinkeln und ist wieder so weit entfernt, dass du ihn gar nicht mehr siehst. Aber meine Freunde, alle, alle, die ich so vor mir sah, hab ich gekriegt, den letzten 3 km vor dem Ziel. Und wenn der Lauf doppelt so lange gedauert hätte, hätte ich..., na klar, auch Jan Prochaska...

Diese Trance war Wirklichkeit, denn Km-Markierungen gibt es nicht, du verlierst dich im Nebel dieser milchstraßenweiten Distanz und läufst und gehst und läufst und... Der erste Hinweis, den ich sah, war „noch 30,5 km“; und die letzten 5 km waren markiert. Alles wird irgendwann gleichgültig, außer 5:1, außer Verpflegungsstellen, außer Weiterlaufen.

2 km vor dem Ziel habe ich 8:45 auf der Uhr, ich weiß jetzt, ich kann unter 9 Std. bleiben. Ich erreiche Waren,... Strandstraße,... Hafen,... Zielgasse,... Klatschen, auf der Anzeige steht vorne eine 8, eine hilfreiche Hand drückt meinen Arm mit dem Transponder an die Messstation. Ich habe es wirklich geschafft. - Jan Prochaska war übrigens 3:26 Std. schneller als ich.
Eine freundliche Zuschauerin schießt noch ein Siegerfoto von S. und mir. Und hier auch ein herzliches Danke an meine rollende Supporterin, es ist ja auch nicht selbstverständlich, 76,7 km am Stück auf dem Rad zu sitzen.

Fazit:
In 8:58:15 angekommen, Platz 72 von 87 Finishern und 102 Startern.
Am ersten Abend Muskelkater im Rücken im Bereich der Lenden und am Übergang vom Fuß zum Schienbein. Nach 1 Tag fast weg, dafür Pieksen an der rechten Kniescheibe (Kühlen hilft). Fußprobleme wie Blasen usw. 0,0. Erschöpfung ist deutlich mehr als ich es vom Marathon gewohnt bin. Marathon ist ein Spaziergang dagegen. Die Leute unter uns, die 100 km gelaufen sind, haben nun meine noch viel größere Hochachtung.
Werde ich’s wieder tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es (noch) nicht. Man könnte sich schon jetzt für den Müritz-Lauf 2009 anmelden...

Und zum Schluss:
- Der Lauf ist empfehlenswert, landschaftlich meist sehr schön, das Wasser sieht man allerdings weniger, als der Name vermuten lässt. Man muss es abkönnen, große Teile allein zu laufen. Zuschauer gibt es auch nur an den Staffel-Wechselpunkten in den größeren Orten. Es lohnt sich, den Lauf mit einem Kurzurlaub zu verbinden.
- Die Verpflegung ist sehr gut (zumindest für meine Ansprüche), man müsste selbst nichts mitnehmen, auch die Abstände der Verpflegungs- und Wasserstellen sind für mich ok.
- Schuhwechsel hat sich als überflüssig herausgestellt, meine NB755 haben mich gut über die Strecke gebracht.
- Verbesserungswürdig: Km-Angaben auf der Strecke etwas häufiger wären nicht schlecht, damit man sich nicht so völlig im Nirwana verliert.

© Rainer M. Halmen, 12.09.2008

Weitere Info's und Berichte zum Lauf:


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