Tritt ein, bring Glück herein

Stop, leider geschlassen!

 

Bericht Hundert Meilen Landwehrhagen - Ultramarathon beim Steppenhahn (05.2003)
Elisabeth Herms-Lübbe , 14. Mai 2003

Hundert Meilen Landwehrhagen

Diesmal waren die Voraussetzungen ideal. Im vergangenen Jahr war die Veranstaltung von Regen und Schlamm überschattet gewesen, und in diesem Jahr, am 3. und 4. Mai 2003, gab es wettermäßig den Ausgleich, nicht zu kalt, nicht zu warm, keine brennende Sonne, nur ganz wenig Regen, allerdings manchmal starker Wind, der Zweige abriss und sogar einen blühenden Apfelbaum umgekippt hatte. Die Strecke ist sowieso ein Traum, ich kannte sie, weil ich in der Nähe wohne und sie vorher etappenweise abgelaufen hatte: Mittelgebirge mit Flüssen, Wiesen und Feldern und malerischer Stadt. Nachts geht es zwar an etwas unwirtlichen Orten Kassels vorbei, wegen des glatteren Untergrundes auf Radwegen, aber die sieht man dann ja nicht so. Der Bodenbelag ist sehr abwechslungsreich entsprechend der Vielseitigkeit der nordhessischen Geologie, eigentlich tut das den Beinen gut auf der langen Strecke. Von früheren Vulkanen stammt der Basaltsplitt, mit dem viele Wege befestigt sind, einzelne Steinchen finden immer wieder den Weg in die Laufschuhe, dicke Quarzitbrocken können Stolpersteine sein.

Die 100-Meilen-Strecke vom MarathonClubKassel und Hans-Dieter Weisshaar besteht im Wesentlichen aus vier Schleifen ("Loops"), die natürlich nicht geradlinig sind. Zwischen den Schleifen steht jeweils Aufenthalt und Versorgung in Hans-Dieters Garage und Haus. Die erste, 50 km lang, geht nach Osten, die zweite, ebenfalls 50 km, gen Norden nach Hann. Münden, die dritte, auf der es dann Nacht ist, verläuft über 38 km gen Süden nach Kassel, die vierte schlängelt sich mit gut 22 km durch einen nahen Wald. Es sind auch, um die Entfernungen exakt zu machen, kleinere Pendelstrecken eingebaut.

In diesem Jahr hatten sich nur wenige Läufer angemeldet, denn etliche sind mit dem Trans-Europa-Lauf beschäftigt. So war das Starterfeld mit nur fünf Personen klein. Ich startete schon eine Stunde früher, um fünf Uhr, es begann gerade erst zu dämmern. "Tapern" hatte mir Hans-Dieter per E-mail geraten. Das gab mir Rätsel auf. Später kam mir die Erleuchtung: auch bei Macbeth von Shakespeare, so fiel mir ein, ist von "taper" die Rede als Beleuchtung für unseliges nächtliches Tun. "Torchen" hätte ich eher verstanden. "Magliten" müsste es heißen, sagt meine Tochter. Wie auch immer, ich hatte die Taschenlampe dabei, die mich aber nicht ganz schützte vor Verlaufen auf den ersten Kilometern. Das war aber nicht so schlimm und mein Fehler, eigentlich konnte man sich nicht verlaufen auf der liebevoll bepunkteten Strecke. Ich genoss, noch leichtfüßig und unbeschwert, den Morgen und die Landschaft. Der Maianfang ist, wenn es nicht regnet, bekanntermaßen wunderschön. Das salatblattgrüne Laub ist noch nicht so dicht an den Bäumen, dass es Durchblicke gänzlich verhindert. Ausblicke und Durchblicke gibt es viele, die Strecke verläuft zum großen Teil auf Wanderwegen, die keinen Berg auslassen. Von oben sah man dann idyllische Dörfer, umgeben von Feldern, auf denen frisch, aber lückig das Wintergetreide sprosste. Der Frost im späten Winter hatte Schäden angerichtet, umpflügen und neu ansäen ging nicht, weil es nicht genug Saatgut für Sommergetreide mehr gab. Auch den Nacktschnecken ist der Winter an den Kragen gegangen. Bisweilen krochen welche herum, orangene und dunkelbraune, aber nicht gerade zahlreich. An botanischen Besonderheiten waren weiße Vergissmeinnicht und roter Sauerklee zu bestaunen, auch gab es Bärlauch im Wald. Auf Wochenmärkten wird er jetzt als Modegemüse des Jahres gehandelt, die Gemüsebauern haben wohl Fortbildung gehabt, wo sein Anbau gelehrt wurde. Auch Förster haben manchmal Fortbildung. Als Ergebnis davon haben sie streckenweise Pazifische Blaufichten gepflanzt, mit gedrungenem Stamm und vergleichsweise wenig Ästen. Ein Gedenkstein, den sie sich deswegen gesetzt haben, belehrte mich darüber. Diese und andere Fichten blühten oder hatten gerade geblüht. Die Pollen bildeten dicke Ränder um austrocknende Pfützen. Diese massiven Pollenflug hat vor Zeiten auf der Documenta im nahen Kassel ein Künstler aufgegriffen. Er hat Blütenstaub von Fichten und, ich glaub, von Raps kiloweise gesammelt und kegelförmig ausgeschüttet, wo er dann in seltener Intensität schwefel- oder dottergelb leuchtete.

Auf dem Rückweg von der ersten Schleife führt der Weg auf einer alten Grenze längs, die noch heute gültig ist als Grenze zwischen Hessen und Niedersachsen. Er ist von einigen uralten Eichen, fast schon Baumruinen, gesäumt. Solche Fußwege auf Höhenrücken, häufig im extraterritorialen Bereich, gab es früher viele, um Wanderern ein relativ unkompliziertes Vorankommen im vielstaatlichen Deutschland zu ermöglichen, Rennwege oder Rennsteige wurden sie genannt, wir alle kennen einen weiteren. Viele Grenzsteine stehen am Wegesrand, "KFH 1838" (Kurfürstentum Hessen) steht darauf, sie haben eine angenehme Höhe, um sich darauf zu setzen und die Basaltsteine aus den Schuhen zu schütten. Hans-Dieter, der mich irgendwann überholte, trug zur Abwehr Gamaschen über den Schuhen, die hat er sich wohl aus Amerika mitgebracht, hier habe ich dergleichen noch nicht gesehen, aber ich werde mir demnächst selbst welche basteln. Auch die anderen Läufer überholten mich.

Die erste Schleife bewältigte ich ziemlich genussvoll und aufmerksam. In der Garage empfing mich als Helferin die deutsche Primadonna assoluta der Ultrastrecken, Helga Backhaus. Sie wäre wohl auch gern mitgelaufen, ist aber verletzt und war extra angereist um zu helfen. Die Stimmung war nicht gut, denn Hektik hatte in der Luft gelegen und der Dobermann, der als Gasthund bei Hans-Dieter weilte, hatte Läufer attackiert und so die Hektik noch verstärkt. Helga glättete die Wogen, wollte mir Spaghettis servieren, doch ich hatte schon eine gewisse Magenlähmung, die sich auch nicht mehr bessern sollte. "Essen trainieren beim Laufen", so ihr Ratschlag, den ich gern annahm, der mir zu dem Zeitpunkt natürlich nicht so viel nützte. Ich lief wieder hinaus, Schleife zwei begann. Hin- und Rückweg sind dabei gleich, bald kamen mir drei meiner Mitstreiter entgegen. Am Scheitelpunkt in Hann. Münden erwarteten mich nicht nur Susi, Hans-Dieters Frau, sondern auch mein Mann und meine Tochter, die von Kassel aus mit dem Fahrrad gekommen waren. Susi war mir dem Auto und dem berühmten Kofferraumbüffet da, sie gab mir warme Erbsensuppe mit Würstchen, die ich leider bald an meinen Mann weiterreichen musste. Es war viel Betrieb von Bootsfahrern rund um den Weserstein, einige Kinder sollen sogar gebadet haben. Zurück ging es, wieder durch die mittelalterlichen Straßen mit sonntäglich schlendernden Menschen. Ich war wohl eine erbärmliche Erscheinung zwischen ihnen, schmutzig und mit schweren Schritten daher kommend. Ich hatte mir extra einen Geldschein ins Gepäck gesteckt, um mir zu diesem Zeitpunkt ein Eis zu kaufen, was ich dann doch nicht tat.

Irgendwann, die Abenddämmerung brach schon herein, hatte ich die 50-Meilen-Marke erreicht. Ein Schild in einer der Verpflegungskisten, die in Abständen am Wegesrand aufgebaut waren, gab darüber Auskunft. Ich war schon langsam und kraftloser geworden, und nun erst die Hälfte! Meiner Motivation hilft sonst manchmal eine Vorstellung, die ich aus einem Documenta-Kunstwerk längs vergangener Jahre abgeleitet habe. Es bestand aus Spiegeln mit entsprechend üppig verzierten Rahmen, die den Betrachter geistig in eine bestimmte Rolle befördern sollten. Einer hieß "See yourself as a queen", ein anderer "See yourself as a prostitute". Ich denke mir dann einen dazu, mit Lorbeeren im Rahmen, der mein erschöpftes Selbst abbildet, gewandet in Schweiß und schmutzige Sachen, mit müdem, aber glücklichen Gesicht : "See yourself as a finisher".

Diesmal klappte es nicht. Ich hatte mir ohnehin nicht in den Kopf gesetzt, unbedingt die 161 km zu bewältigen, deshalb fiel mir der Entschluss, bei 100 km aufzuhören, nicht schwer. Mit dem Handy informierte ich meinen Vereinskameraden Heinz Neumann und meine Tochter Rosa. Beide waren dankenswerterweise bereit gewesen, mich eventuell nach 100 km zu begleiten, der eine nachts auf Schleife drei, die andere auf Schleife vier. Heinz hatte sich aber nun schon umgezogen und auf das Laufen gefreut, und so kam er mir entgegen. Es wurde dunkel, er trug eine Stirnlampe und hatte mit viel zu erzählen. Er ist ein lebhafter und höflicher Mensch, und so wendete er mir häufig sein Gesicht zu. Ich bat ihn, mich nicht anzusehen, er bemühte sich, aber gute Erziehung lässt sich nicht so leicht unterdrücken. So "taperten" und funzelten wir durch den Wald. Ein junger Dachs hatte so etwas noch nicht gesehen, wir bestaunten uns gegenseitig, bis er sich doch lieber in seinen Bau zurück zog. Vor einigen Monaten hätten wir hier auch einem leibhaftigen Wolf begegnen können. Der wurde leider erschossen, und danach stellte sich heraus, dass es eine Wölfin war, die aus einem Gehege entkommen war. Sie hatte wie ein Ultramarathonläufer lange Strecken zurückgelegt, allerdings aus einem anderen Grund: sie war auf der Suche nach einem Wolfsmann gewesen.

In der Garage erwartete mich mein Mann und wir fuhren nach Hause. Schade eigentlich, im Nachhinein.

Die dritte Schleife, die ich nun nicht mehr durchlief, berührt Kasseler Stadtgebiet. Im vergangenen Sommer ist das Documenta-Publikum ein ganzes Stück über Hans-Dieter-Punkte gewandelt. Ob sich wohl jemand Gedanken gemacht hat über ihre Bedeutung? Gut möglich, denn Straßenkunstwerke haben eine gewisse Tradition bei der Documenta. Ich erinnere mich an zwei. Eins war, auf eine Hauptverkehrsstraße gemalt, der Grundriss einer Kirche, die dort gestanden hat, bis sie vor ca. 150 Jahren eben jener Straße weichen musste. Ein anderes zielte auf den Vergleich zum Menschen und hieß ungefähr: "Die Straße ist verletzt worden und keiner hat es gemerkt", es waren Stahlplatten scheinbar unmotiviert eingelassen, die Flickstellen sind heute noch da.

Ja, die 100-Meilen-Strecke könnte man anreihen an solche Kunstwerke. Gut sichtbar für den Interessierten liegt sie erhaben und in großer Schönheit in der Landschaft, die Streckenführung gewählt mit differenzierender Ortskenntnis und exquisitem Geschmack. Sie hat auch etwas Anrührendes, man spürt die Begeisterung und die Hingabe, mit der sie gemacht ist, darauf wartend, von Läufern durcheilt zu werden. Zur Zeit des Wettkampfes war sie sozusagen mit Juwelen geschmückt, mit den drei Helferinnen Susi, Helga und meiner Vereinskameradin Helene Worbes, die alle drei mit seltenem Idealismus viele Stunden lang die Läufer umsorgten. Etwas unwürdig fühlte ich mich hinterher schon, dieser Kostbarkeit nicht ganz gewachsen gewesen zu sein.

Ergebnisse:

  • 100 Meilen:
    1. Weisshaar, Hans-Dieter (62)   22:32:22
    2. Hloucal, Stephan (50)   23:52:29
    3. Inofficial finisher:
      Laika (Siberian Husky, 6)   23:52:29
  • 100 km:
    1. Knaehrich, Werner     13:09
    2. Herms-Lübbe, Elisabeth (53)    17:56
  • 75 km:
    1. Schädlich, Rainer     11:55

Helfer:

Die folgenden drei Damen waren die einzigen Helfer beim 3. GERMAN 100 Miles und leisteten einen perfekten 26 Stunden-Service:

Helga Backhaus (multiple Spartathlon champion, German National Ultra-Team, ninetimes Western States 100 silver buckle finisher etc...)

Helene Worbes (climber and ultrarunner)

Sabine "Susi" Seidel (married to Hans)


© Elisabeth Herms-Lübbe , 14. Mai 2003
isaherms@hotmail.com

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