Wigald Boning , 28. Juli 2003

Vermöbelt vom "schönen Rene´" beim Swiss Alpine Marathon in Davos

Eigentlich wollte ich drei kleine Privattexte verfassen für mein Tagebüchlein:

  1. mein Lauf auf die Zugspitze vor einer Woche,

  2. meine Wib-Schaukel-Interviews mit dem Ex-Boxweltmeister Rene´Weller am letzten Dienstag,
    mit Claudia Roth am Mittwoch und

  3. meine Teilnahme am Swiss Alpine Marathon in Davos.

Klingt nach Überdosis, und diese Woche hatte es dann auch in sich. Meine Energiereste lassen keine drei, sondern nur noch einen Kurztext zu. Obergrüne Claudia Roth halt´ich mal raus.

Wohlan. Zuerst eine Notiz zu meinem letzten Vorbereitungslauf für Davos, nämlich den Berglauf auf Deutschlands höchsten Gipfel, den ich bis dato noch nie besucht hatte, weder zu Fuß noch sonstwie.

1992 hab ich´s mal Weihnachten probiert, aber am Zugspitzbahnhof in Garmisch hing ein Schild am Bahnsteig, darauf stand: "Zugspitze wegen Überfüllung geschlossen". Wow.

In den folgenden Jahren hatte ich diesen Berg daraufhin strikt gemieden. Bis mir der nette "Spiridon"-Mitarbeiter Udo Möller vom hiesigen Berglauf erzählte. Der sei tiptop.

"Wenn Du auf die Zugspitze läufst", so meine Kumpels aus der Füssener Berglaufclique, "nutze

  1. jede sich bietende Trinkgelegenheit, und

  2. laufe am besten den Berg auch wieder hinunter, denn das Warten auf die Zahnradbahn zerrt an den Nerven."

Start im Partenkirchener Skistadion. Eine eigentümlich bescheidene Variante der monumentalen Nazi-Architektur. Alles zwei Nummern kleiner als in Berlin. Aufwärts, Sonne. Immer spähen, wo was fließt.
Drei Stationen sind angeboten (aus Naturschutzgründen), für ausreichenden Hydrationskomfort zwei zu wenig. Der Lauf teilt sich in drei Abschnitte:

  1. durchs Reintal, an der Partnach entlang, leicht zu betraben, ca. 17 km. Karl May wäre hier gerne mitgelaufen, denn es sieht aus wie bei Winnetou, ganz hochalpin, für Deutschland ungewohnt großformatig.

  2. Plötzlich gaaanz steil, nur noch Gehen möglich (ausser vielleicht für den Sieger, was ich natürlich nicht wissen kann, denn ich folge ihm mit Anstands-Abstand), die letzten fünf km fressen somit 1 bis 1, 5 Stunden. Am Zugspitzplatt glitschiger Schnee, Party im Ziel. Meine Zeit: 2:59 h. So eine Art stylische Event-Agentur ist für den Lauf verantwortlich, und so ist schon aus großer Entfernung die chillende Trance-Untermalung zu vernehmen. Ach ja: Das Ziel ist am Lokal "Sonnalpin", am Gletscher, 2600 Meter hoch, und darum unternehmen viele Teilnehmer nach dem Wettbewerb noch

  3. Einen Fußmarsch auf Deutschlands höchsten Gipfel. Ich auch.

Im nächsten Jahr soll dieser Lauf mit dem extrabeknackten "Top of Germany Challenge-Extremberglauf"-Motto bis ganz nach oben führen. Da bin ich mal gespannt. Ein breites Schotterfeld will gequert werden, und dort sind Fehler so´ne Sache. Einer rutscht und alle machen Plumps.

Oberhalb dieser fiesen Steinfalle kann nur noch per Stahlkabel-Hilfe gegangen werden. Das ist sicher machbar. Mit Camelbak jedenfalls, und ohne Hudelei. Oder bin ich zu flachländrisch und in Wirklichkeit ist die Route puppig? Für diese letzten 350 Höhenmeter brauche ich jedenfalls nochmal so 30 oder 40 Minuten, dann gelangt man zurück in die "Zivilisation", nämlich auf den betondurchwirktesten Gipfel der Welt.

Wegen des Tower-artigen Turmes der Wetterstation fühlt man sich an einen mittelgrossen Verkehrsflughafen erinnert. Hunderte Ommas aus Wanne-Eickel mit der Thüringer in der Hand gucken in die Ferne, auch Nonnen, Babys, Amerikaner und Asiaten, ein Super-Fußgängerzonenflair auf drei Etagen, kurzum, hier ist`s

  1. lustig,

  2. pervers,

  3. sehenswert.

Aber nicht preiswert. Für eine Apfelschorle und ein Weissbier zahle ich 9, 40 Euro. Nochmal Wow! Die Zugspitze ist eben ein Berg der Superlative.
Kleine Anregung für die Gipfelverwaltung (ist das der Bund? Das Land Bayern? Ein abgefahrener Jux-Verein?):
Was hier oben, zwischen Kunsthalle und "höchstem Postamt Deutschlands", noch fehlt, sind

  1. Eine Sparkassenfiliale mit Geldautomat,

  2. Ein Adler Trachtenmoden-Bekleidungsmarkt (die häufigen Wetterwechsel dürften viele Besucher überraschen), und, was meinen Geschmack besonders präzise träfe,

  3. Eine Nordsee-Filiale.

Also weiter Zement mischen und draufkleistern, dann komme ich gerne wieder. Und runterwärts werde ich demnächst tatsächlich laufen. Man spart eine Stunde.

Dienstag. Wib-Schaukel-Dreh mit Rene Weller in Bad Gögging. Ich interviewe ihn

  1. beim Frühstück auf einer Hotelterrasse

  2. schwimmend im Tümpel

  3. in der Weltenburger Ruhmeshalle für die Deutschen Freiheitskämpfer

  4. am Donaustrand

  5. beim Training in der Turnhalle des Kurhauses

...und ich trainiere eifrig mit. Während der Kameraumbauten weist dieser sympathische Ex-Weltmeister, Ex-Schönling, Ex-Obermacho und Ex-Häftling mich in die Geheimnisse des Faustkampfes ein. Und zwar an der "anaeroben Schwelle". Aus Jux wird echtes Sparring, jedoch sind nur Körpertreffer erlaubt. Der Kopf ist tabu. Mal was neues. Macht Spass, und ich lerne viel. Der Film wird auch gut. Glaub ich jedenfalls.

Nur: Am Mittwochmorgen entsteige ich dem Bett und sage:

  1. Aua,

  2. Aua,

  3. Aua!

Alles tut mir weh. Was für ein kläglicher Vorbereitungs-Faux-Pas! Zu allem Überfluß haben mir am Donaustrand bösartig mutierte Flußmücken die Beine zerstochen, die nun aussehen wie die Marsoberfläche, rot und verkratert. Unten juckt´s, oben fühle ich mich verprügelt. Und das bin ich wohl auch. Ich disponiere im Geiste um. "Lass´ Davos sausen, laufe locker den Marathon in Füssen am Sonntag", raune ich mir zu. Und der berühmte innere Schweinehund wedelt mit dem Schwanz und bellt zustimmend (übrigens ärgert sich dieser Hund v.a. über Autofahrerei, Kartengefalte, Sachengepacke; dem Laufen begegnet er mittlerweile mit Apathie).

Erst am Freitag reisse ich mich zusammen, stopfe meine Familie ins Auto und los geht´s.

Davos. Mann´s Zauberberg, Klabund hat hier auch gedichtet, Weiße Old-Europe-Hotels neben 60er Plattenbauten. Pastaparty in der Eissporthalle. 1000 Läufer löffeln. Ich fülle den Teller siebenmal nach, v.a. um auch meine zwei Kinder satt zu kriegen. Gottseidank ist die Halle so groß, dass derartiger Mißbrauch nicht weiter auffällt.

Daß Davos seinen besonderen Ruf zu Recht genießt, wird jederzeit auch in den –vermeintlich- nebensächlichsten Organisationsdetails deutlich, z.B.

  1. Als um 7.45 der Walkingwettbewerb beginnt, wird die dramatisch-symphonische Musik, die den pathetischen Start-Countdown unterlegt, mit dem Startschuß von Roberto Blancos "Ein bisschen Spaß muß sein" abgelöst. Ulkig. Groß. Perfekt im Timing.

  2. Verpflegung in Chants: Plötzlich wird Brot gereicht. Brot? "Isch gut im Gebirge!" ruft die Helferin. Ob sie Recht hat? Keine Ahnung. Aber der Eindruck des besonderen Moments entsteht. Brot als Vorahnung, als Symbol (vgl. Haferschleim am Rennsteig) Dramaturgisch 1a.

  3. Der berühmte Laufarzt Beat Villiger, der am Scaletapass jedem Läufer persönlich in die Augen schaut und die Erlaubnis zum Weiterlaufen erteilt: Es gibt ihn tatsächlich! Oder ist es ein Double? Ein netter Mittvierziger (doch, doch, das muß er sein!) drückt mir jedenfalls auf der Passhöhe fest die Hand, lächelt freundlich, ich gucke so unangestrengt wie nur möglich, was ihn wahrscheinlich belustigt, ich grüsse, mein Keuchen unterdrückend, er wünscht "Viel Glück!", ich stammele assimilationsfreudig "Merci!" und humple weiter über die kopfgroßen Felsklumpen in 2500 Metern Höhe. Puh, ist ja noch mal gut gegangen (...denkt sich wahrscheinlich jeder).

Es drängt sich geradezu auf, an dieser Stelle jenen Ratschlag zu erwähnen, den Dr. Villiger allen Läufern am Start mit auf den Weg gibt, nämlich (ich zitiere wörtlich):

  1. "Trinken,

  2. Trinken,

  3. Trinken!"

Da hat er Recht. Traumsommer auch hier. Ich sauf weg was ich kann. An jedem Tapetentisch versuche ich, drei Becher zu vertilgen, 2x Wasser und 1x Iso. Trotzdem: V.a. hinter der Keschhütte, am Panoramatrail fühle ich mich ausgedörrt wie ein Stockfisch. Ach ja, eine Frage an Spezialarzt Beat Villiger: Wird der Mund in Höhenluft trockener als im Tal? Pa poben plept pie Punge am Paumen pepft. Oder hapf ich pu pfenig geprunken?

Jedenfalls, ums kurz zu machen: Von den Wellerschen Prügel merke ich nix mehr. Gut so. Zu gigantisch die Felsfaltungen, zu ergreifend das Vorhaben, schließlich auch: Zu lang der Tag. Auf Muskelkaterreste in den Schultern zu achten wäre unerhörter Luxus. Schlapp fühlt man sich sowieso.

Mein Plan: Langsam. Ankommen. Wenn ich es bis Bergün schaffe (ca. 42 km), dann schaff´ich auch den Rest. Ausserdem: Bergauf überholen, bergab überholen lassen. Ferner: Ab Keschhütte darf ich mir eine erste Vorfreude auf die Finishereuphorie erlauben. Sobald das Tal wieder erreicht ist: Hurra! Dann heißt es smilen, denn der Rest ist reine Dreingabe. Meiner Familie erzähle ich, man könne mit mir nach sieben oder acht Stunden rechnen.

Ums noch kürzer zu machen: Alles klappt wie am Schnürchen. Nur: Mit dem Bergauf-Überholen klappt´s selten. V.a. zwischen Keschhütte und Scalettapass wäre sowas grober Unfug. Also immer schön im Gänsemarsch.

Und: Mit der Endzeit verschätze ich mich. Bergün durchlaufe ich nach 4:20, für alles zusammen brauche ich schließlich 9:52. Gehpausen an allen Verpflegungszelten, ab 10 Meter vor Bechergriff bis zum letzten Mülleimer. Rechenspiele, z.B. "ab jetzt noch 16 km, pro km 6 min, also rechne ich pro km 7 min, d.h. ich errechne eine Endzeit von 9:58, bin jedoch früher da und somit

  1. entweder positiv überrascht oder

  2. habe noch Muße für eine außerplanmäßige Notruhepause."

Bereits in Filisür (km 30) wird mir klar: Mit Pinkelpausen kann ich bei der heutigen aufgefönten Witterung nicht rechnen. Die müßte ich mir schon einbilden (...als Meister des Selbstbetrugs für mich normalerweise kein Problem, aber heute ist die Blase so leer wie mein Kopf nach km 78), und ich ersetze diese Erholungsalmosen durch leichte Verlängerung der Gehstrecken an Steilpassagen auch über die Kuppe hinaus (...bitte, bitte, Wigald, nur noch dieses eine klitzekleine Meterchen...). Zwischen 16 und 17.30 Uhr verspreche ich mir vielfach: "Heute abend gehste zur Tanke und kaufst dir ´n Paket Zichten und´n Sixpack, so wahr ich hier schwitze!" (Hinterm Zielband hab ich an der Entgegennahme dieser Prämie gar kein Interesse; zu müde zum Rauchen sozusagen).

Flops:

  1. Meine mitgeführte Regenjacke (baumelt um die Hüfte geknotet blöde in den Kniekehlen)

  2. Meine Sonnenbrille (in der Potasche ab km 60 lästig zwickend und hautschabend)

Tops:

  1. Die unerhörte Landschaft. Felsen, welche von der Flechte Dactylina madreporiformis pfefferminzgrün verziert sind (...tipp ich jetzt mal. Mit der Lupe hab ich mich nicht genähert...). Sieht irgendwie irisch aus. Hab ich noch nie so gesehen (...jedoch nur ein Sensatiönchen von vielen). Für Filmfreunde: Wenn Oberstaufen 16mm und Zugspitze 35 mm ist, handelt es sich bei Davos um Cinemascope.

  2. Die nette, geschliffene, überraschende Organisation. Als wollte man der Welt zeigen, was im logistisch-dramaturgischen Bereich heutzutage möglich ist. Alles klappt, passt, wackelt, hat Luft. Bei sieben (oder waren es sogar mehr?) gleichzeitigen Wettbewerben, "Team", "K78", "K30", "K42", "C42", "E605" usw. Für einen Schussel wie mich nicht zu fassen. Und die Hubschrauber! Irre! Protzometer!! Zwei Stück, mit Kameras, der eine filmt die Läufer, der andere filmt den einen, wie er die Läufer filmt. Hier ist alles groß, geschmeidig, "von Welt". Sogar die Finisher-T-Shirts sind Adidas, Funktion, beste Bohne quasi, speziell designed...Soll ja Leute geben, die auf das eine oder andere nicht soo viel Wert legen, aber...lassen wir das.

  3. Die Begeisterung der Anwohner. Schweizer lieben ja derartige Freizeitvergnügungen, und so geht´s in besiedelten Gegenden zu wie beim Stadtmarathon. Sogar karnevaleske Einlagen vermute ich einmal (in Dürrboden), nämlich als vier weißgekleidete Sportfreunde eine Trage mit Auflage transportieren. Bei der Auflage handelt es sich jedoch um einen Läufer mit gebrochenem Bein. Ähem. Ich überhole taktvoll grüssend.

  4. Der Triumph. Ich komme ins Ziel! Ja! Yippie! Nicht zu fassen! Ich bin der Beste, der Schönste, der Schnellste! Der Schnellste? Nein, aber, äh, wenigstens der VERPRÜGELTESTE! Ich bin mein persönlicher WELTMEISTER! EIN GANZ TOLLER HECHT! Ergriffen von mir hopple ich leichtfüssig über die Ziellinie, überschütte mich mit Lob und versuche, ins Finisher-T-Shirt zu schlüpfen. Leider fehlt mir die Kraft, um diese Aktion zu beenden, bleibe mit dem Kopf im Leibchen stecken und schleppe mich nach dem Weg tastend zur nächsten Ruhebank.

Abends um acht treffe ich auf der Strasse vorm Kongresszentrum den Allgäuer Lokalmatador Thomas Miksch, hier als Dritter im Ziel. Er läuft sich aus (!).

Wir plaudern kurz; er schildert den Rennverlauf aus seiner Sicht. Dann lasse ich Oberidiot, ich ARSCH,

ICH VOLLNULL mich dazu hinreissen, meine Durchschnittszeit mit folgenden Worten zu erläutern:

"Nun ja, ich war ein bißchen geschwächt, habe letzte Woche geboxt, hatte Muskelkater..."

WIE JÄMMERLICH! WIE KLEIN! WIE PEINLICH!Komme mir vor wie Carsten Spengemann, der nach seinem verlorenen Promiboxkampf bei RTL lamentierte: "Ich hatte was an meiner Schulter..."(...der Rest seines Statements ging im Gebuhe des Publikums unter. Zu Recht).

Aber, was soll´s, ich verzeihe mir hiermit.

Auf dem Rückweg am Sonntag machen wir´s wie nach dem Winterthur-Marathon im Mai 2001: Ein Bodenseebad in Bregenz, dann Junk Food bei McDonald´s in Lindau. Keine ganz originelle Idee: So mancher Träger des gelben Finishershirts beißt hier herzhaft in den McRib. Man zwinkert sich zu. Wie seinerzeit die NSU Ro80-Fahrer. Weiterfahrt. Dann Gewitter. Ganz dolle. Wie ein Tusch zum Abschluß.

P.S.: Mein Respekt, meine Sympathie, meine Hochachtung gehören all meinen Mitläufern, allen Helfern, der Organisation, dem Wetter- sowie dem lieben Gott und natürlich meiner geduldig und am Ende etwas sorgenvoll auf mich wartenden Familie –und natürlich mir selbst. Ich sage:

  1. Danke,

  2. Sorry, daß der Text doch ein wenig länger geworden ist, aber immerhin passt so der Umfang zur Dimension dieses XL-Laufes

  3. Gute Nacht, liebes Tagebuch.


© Wigald Boning , 28. Juli 2003
Maehdresch@aol.com

Weitere Info's und Berichte zum Lauf: