Tritt ein, bring Glück herein

Stop, leider geschlassen!

 

Bericht Die 185 Stufen von Bottrop - Ultramarathon beim Steppenhahn (11.2004)

Zufälliges Zitat

"Schwerkraft ist die Kraft, die einem fehlt, um den schweren Körper leichtfüßig einen Hügel hinauf zu bewegen."

Tobias Lagemann

Nächster Ultramarathon

Verena Liebers , 07. November 2004

Die 185 Stufen von Bottrop

Auftreten heißt genau genommen "den Boden berühren", so wie man das eben beim Laufen tut. Bei mir ist das aber anders: Wenn ich auftrete, lese ich Geschichten vor und das noch dazu im Stehen oder Sitzen. Dabei kommt mir gelegentlich die Bodenhaftung sogar etwas abhanden und ich fühle mich am nächsten Tag etwas seltsam - losgelöst gewissermaßen. Nun hatte ich am 6.11.2004 mal wieder so eine Lesung und am 7.11. war der Bottroper Ultra. Da dachte ich erst: Ach fein, gute Gelegenheit, um auf den Boden der Tatsachen zurück zu kommen. Der Boden in Bottrop ist schließlich sehr hübsch, noch dazu im Herbst. Lauter bunte Blätter und immerzu ein Schild, wie viel Weg man schon hinter sich hat. Das passiert einem sonst nicht so leicht. Aber dann fiel mir auch ein, dass ich nach so einem Auftritt meistens müde bin. Die Zuschauer trinken Wein und ich habe einen Brummschädel. Das kenne ich schon. Auf diese kollektive Komponente komme ich später noch mal zurück. Also laufe ich vielleicht doch besser nicht in Bottrop, überlegte ich. Dabei wurde ich ein bisschen traurig. Aber dann kam Stephan und hatte die Idee: "Begleite mich doch einfach auf der zweiten Hälfte von den 50km. Dann kannst du ausschlafen und trotzdem 25 Bottrop-Kilometer laufen." Die Idee war genial, sie war ja auch von Stephan. Also das ist nicht irgendein Stephan sondern der Steppenhahn-Stephan. Mit dem laufe ich gelegentlich. Das merken viele gar nicht, manchmal nicht mal der Stephan. Das muss man ihm aber verzeihen. Erstens weil man einem Steppenhahn sowieso nicht böse sein kann und zweitens weil er eben doch sehr viele Begleiter hat Und Begleiterinnen. Da komme ich aber auch später noch mal darauf zurück.

Zunächst mal kam der Sonntag morgen. Die Sonne schien, ich hatte höllische Kopfschmerzen und eine ziemliche Wut auf den Wecker und den VRR, die mir das Ausschlafen doch verdorben hatten. Aber egal, ich war dann jedenfalls unterwegs und als ich in Bottrop den Förderturm sah und kurz darauf den Sigi samt Sigimobil, war die Welt doch ziemlich in Ordnung. Im Sigimobil machte ich noch Bekanntschaft mit Luise. Die hat Sigi für zwei Euro vom Jahrmarkt gerettet. Sie sieht aus wie eine Mischung aus Luftballon und Heuschrecke und lächelte so freundlich, dass ich meine Kopfschmerzen fast vergaß. Nach dem Sigi-Luise-Plausch ging ich noch zum Kuchenbuffet. Da hatte man für einen Euro freie Auswahl zwischen Sahne-, Obst-, und Schokoladenkuchen. Das habe ich zum ersten Mal in Bottrop gesehen, weil den Kuchen sonst die Schnell-Läufer immer schon aufgegessen haben bis ich komme. Ich wählte ein Stück Mohnkuchen und fand Stephans Idee mit der zweiten Lauf-Hälfte noch mal besonders prima. Dann stellte ich mich an die Strecke und wartete. Ich hatte mein gelbes Kappi nicht dabei, aber dafür einen Sonnenaufgangspullover in neon-orange. Das hat aber auch nichts geholfen, Stephan ist glatt an mir vorbei gelaufen und hat nur dem Sigi zugewinkt. Nach der Halbzeit-Wende ist er aber extra gegangen, um nach mir Ausschau zu halten. So haben wir uns doch noch gefunden.

Auf den ersten Begleit-Kilometern war ich allerdings noch ziemlich überflüssig, denn Stephan war mit Grüßen beschäftigt. Ein Drittel der Läufer kannte er schon lange, ein Drittel hatte er auf dem Lauf kennen gelernt und das dritte Drittel grüßte er einfach aus Nettigkeit. So ist er nun mal. Aber mit der Zeit wurde es einsamer auf der Strecke und ich kam so richtig in Fahrt. Ich wollte doch dem Steppenhahn die zweiten 25 km so versüßen, dass er gar nicht merkte, ob es nicht vielleicht doch die erste Runde war. Dabei ist doch die zweite Bottrop-Runde bergig, das weiß ja jeder, der die 50 dort läuft (Für die anderen zur Ergänzung: Man läuft zwei Mal dieselbe 25 km-Runde). Ich musste mir also schon was einfallen lassen. Zum Beispiel sagte ich: "Das ist so heiß, ich ziehe mich mal aus."

"Ja gut", antwortete Stephan, "Aber mach langsam."

"Klar", beruhigte ich ihn, "Wir haben doch 25 km Zeit."

"Nein, nur 12,5", berichtigte er mich daraufhin. "Schließlich musst du dich auch wieder anziehen."

So ist er eben, der Stephan: Immer besorgt um andere.

Ich habe dann lieber das Thema gewechselt. Das fiel mir sehr leicht, weil ich mich mental zu einem Radiosender verwandelt hatte. "Jetzt berichten wir aus der Sportszene" Meine Stimme hatte genau das säuselnde Timbre eines erregten Sportreporters. "Steppenhahn-Stephan hat eindeutig die Führung des Feldes übernommen." Das stimmte genau, denn neben uns lag eine Sonnenblumenfeld und das ließen wir locker hinter uns. Ansonsten passierte nicht viel, das Wetter war gut, die Landschaft schön und wir hatten das auch beides schon fünf Mal besprochen. Ich schaltete deshalb auf Kultur um.

"Ich könnte ein Gedicht aufsagen" schlug ich vor.

"Na gut." Es war keine Euphorie zu hören, aber zumindest hatte Stephan nichts dagegen. Also legte ich los. Sechs Strophen. Als ich bei der fünften angekommen war, überholte uns ein Läufer.

"Hallo" sagte Stephan.

"Hast du da ein Literaturprogramm?" fragte der Überholer. Mitten in der fünften Strophe! Prompt erklärte Stephan: "Den Schluss habe ich jetzt überhaupt nicht mit bekommen." Nun, ich bin zum Glück flexibel, verwandelte mich kurzerhand vom Radio zum Cassettenrecorder und spulte zurück. Fünfte und sechste Strophe ohne Unterbrechung bis zum Schluss.

"Gut", sagte Stephan. "Mir tun die Beine weh." Ich musste mir zur Ablenkung offensichtlich etwas anders einfallen lassen. Zum Beispiel ein ganz dramatisches Überholmanöver. Spaziergänger, die uns entgegen kamen. Das war ideal. "Stephan, die überholen wir jetzt. Siehst du in was für einem atemberaubenden Tempo die uns näher kommen?" Stephan zeigte den Hauch eines Lächelns und grüßte. Dann überholten wir noch eine Frau, die uns nicht entgegen kam. Es war eine Läuferin mit Gehpause. "Ich habe solche Kopfschmerzen" stöhnte sie. Da fiel mir erst auf, dass meine Kopfschmerzen mittlerweile ganz verschwunden waren. Ich glaube ja an ein kollektives Unbewusstes und lotste Stephan deshalb schnell an der Frau vorbei. Schmerzen wollen manchmal einfach irgendeinen Kopf haben. Das muss nicht immer meiner sein, finde ich.

Und dann kam auch schon Karin.

"Die habe ich heute schon drei mal überholt" erklärte mir Stephan stolz. Daraufhin zog Karin an uns vorbei, man plauderte kurz über das Wetter und danach wurde es irgendwie anders. Stephan gab Gas. Also das war so bei ca km 8 für mich, das heißt Stephan hatte etwa 33 km hinter sich. Wenn man bei km 33 beschleunigt, sollte man das ganz bewusst tun, finde ich.

"Wir werden immer schneller" stellte ich deshalb fest. Sofort lieferte mir Stephan die Erklärung: "Ich möchte die Karin gerne noch ein viertes Mal überholen." So war das also. Na gut, ich war zum Glück noch frisch und munter. Leichte, aber stetige Tempobeschleunigung und gleichzeitig mentale Aufbauarbeit sollten kein Problem sein: "Stephan, wenn du jemand ein viertes Mal überholst, das bringt total Glück, egal was danach kommt. Das kann dir niemand mehr nehmen. Und pass auf, was dich für ein verblüfftes Lächeln treffen wird." Tatsächlich: Schon war das Überholmanöver gelungen und aus Karins Brust rang sich ein Schrei der Verblüffung.

"Super, du hast es geschafft, die ist jetzt in ihrem Ehrgeiz richtig verletzt" lobte ich Stephan. Aber ich hätte ihn besser kennen sollen.

"Verletzt? Na, das will ich doch nun aber auch nicht." Prompt fiel er wieder zurück. An der nächsten Verpflegung hatte Karin uns erneut eingeholt und ich bekam Stephans Wasserflasche zu tragen. Das kam so: "Mir ist die jetzt zu schwer" meinte Stephan und drückte mir die Flasche in die Hand. Dann habe ich sie also getragen. Das ist natürlich auch gut für die Armmuskulatur, aber mir ist ja etwas für die Seele immer wichtiger. Also sagte ich bei Kilometer 14 (respektive 39): "Sonst trage ich total ungern Wasserflaschen in der Hand, das mache ich jetzt nur für dich." Ich gebe zu, dass ich ein bisschen hoffte, Stephan würde sagen: "Das ist toll von dir." Statt dessen murmelte er: "Ich kann die auch wieder selber nehmen, wenn es dir zu viel ist." Ich habe die Flasche dann trotzdem behalten, nur Stephan hat sie ausgegossen damit sie nicht so schwer ist. Da kam mir das Flaschentragen dann auch nicht mehr so bedeutungsvoll vor. Aber ich war bald wieder abgelenkt, weil zum Schluss noch ein High light anstand. Da sollte ein Turm auf der Strecke sein und Stephan wollte da hoch. Ich auch. Nicht nur wegen der persönlichen Begleitung auf allen Wegen sondern auch wegen der Aussicht. Irgendwann sagte Stephan jedoch: "Also wenn du jetzt auf den Turm willst, dann kannst du schon mal vor laufen. Ich will da nicht mehr mit."

Na schön, dachte ich mir, renne ich mal vor und da hoch, erlebe was und dann komme ich wieder herunter und versüße Stephan die letzten 2 km mit Erlebnisgeschichten. Das hatten wir nämlich schon am Anfang besprochen, das die letzten 2 km die längsten sind. Ich also los gespurtet und die Stufen hoch. Es waren aber doch ziemlich viele. 185 oder sogar mehr, weil ich wahrscheinlich die Stufen schneller genommen als gezählt habe, so dass das Ergebnis nur so in etwa stimmt. Es lohnte sich jedenfalls: Super Aussicht. Dann Stephans Stimme von unten: "Ich laufe schon mal langsam weiter." Da war ich noch nicht mal bei Stufe 120. Aber aufgeben wollte ich auch nicht. Also noch 55 Stufen hoch, schnell ringsum gucken und 185 wieder herunter. 185 Stufen im Akkord nach 20 km laufen. Wenn ich das einem Couch-potatoe erzählt hätte, würde er bestimmt staunen. Aber so einen hatte ich ja nicht bei mir, nur Stephan. Das heißt, bis dahin hatte ich ihn bei mir - nun war er weg. Dabei nahten bereits die letzten 2 km, die ich doch so besonders nett gestalten wollte. Also gab ich Gas. Als sie bei der letzten Verpflegung fragten: "Was möchtest du?" hauchte ich nur ein "den Stephan" dahin und rannte ohne Trinkpause durch. Tatsächlich hatte ich ihn auch bald in Sichtweite. Aber da sah ich auch noch etwas anderes: Karins rotes T-shirt einige Meter vor ihm. In dem Moment wusste ich, dass ich keine Chance mehr hatte. Seine letzten Kilometer galten Karin. Tatsächlich hat er sie auch noch eingeholt und gemeinsam mit ihr lief er ins Ziel, während mich dahinter das Publikum mit etwas verwundertem Applaus begrüßte. Ein Läufer ohne Startnummer kommt wohl öfter vor, das ist dann ein Betreuer. Aber wenn der Betreuer 500 Meter hinter seinem Betreuungsobjekt hinterher hechelt, wirkt das irgendwie auch nicht glaubwürdig. Ich verdrückte mich dann unauffällig vor der Ziellinie in die Menge und holte Steppenhahn auf dem Weg zum Suppenhuhn wieder ein. Die Wiedersehensfreude war groß und wir hatten uns einiges zu erzählen. Wie gesagt können 2 Kilometer ganz schön lang sein. Wir trafen dann noch ein paar andere Leute, die auch gelaufen waren und die den Stephan schon lange oder noch nicht so lange kannten. Eine Frau sagte: "Naja, ich bin heute bloß 4:41 gelaufen, ging nicht so gut" und ein Mann sagte "Ich war heute irre in Form, ich bin mit 4:41 durchs Ziel gekommen." Das ist das, was ich beim Laufen so mag: Es ist irgendwie absolut individuell. Statt einer Medaille kriegte ich noch eine Umarmung von Steppenhahn-Stephan und als die Frau mit den Kopfschmerzen auftauchte, machte ich mich dann lieber auf den Heimweg.

"War schön" grinste ich.

"War schön" nickte Stephan.

Das hat natürlich mit Bottrop zu tun, da ist es schließlich immer prima. Aber das hat vielleicht auch mit uns beiden zu tun, dem Stephan und mir. Da ist es nämlich nicht immer prima. Aber wenn, dann richtig :-)


© Verena Liebers, 07. November 2004

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