Zufälliges Zitat
Unknown
Nächster Ultramarathon
Neueste Berichte
Suche
Ultramarathon-News
Neuste Forenbeiträge
Gottfried Oel , 08. Juli 2005Isarlauf 2005 - Von der Donau bis ins Karwendelgebirge
Ein Lauf über 338 km vom 16. Mai bis 20 Mai
1. Tag: Von Plattling nach Dingolfing – 62 km -
So frei von der wissenden Ahnung unabwendbaren Untergangs war Kriemhilds Lachen selten. Heute, Pfingstmontag, 16. Mai 2005 treffen wir Sie auf dem Plattlinger Stadtplatz, wo unser Lauf beginnt. Mit ihrem Oheim, dem Bischof Pilgrim aus Passau und mit Hagen von Tronje, dem düstersten aller burgundischen Recken, schon in unversöhnlicher Todfeindschaft mit ihr zerstritten, verabschiedet sie uns zum mehrtägigen Lauf entlang der Isar bis weit hinein ins Gebirg, von wo wir wieder zurück zu kommen hoffen. Die zentrale Stelle im Nibelungenlied als der burgundische Heerzug in Plattling eintrifft, lautet:
"da zu Pledelingen schuof man in gemach,
daz vole man allenthalben zuo zin ritten sach,
man gap in willecliche, des si bedurften da;
si namenz wol mit eren, als tet man wider anderswa".
Weil wir wie Burgunder von der Schauspieltruppe verabschiedet werden, wir fühlten uns genauso stolz, kann, was damals galt, uns gut als Motto dienen für alle folgenden Tage; mit Recht, wir konnten es erleben:
"Dort zu Pledelingen schuf man Ihnen Ruh;
Das Volk allenthalben ritt auf sie zu,
man gab was sie bedurften williglich und froh;
Sie nahmen es mit Ehren so tat man bald auch anderswo."Weil Plattling, zwar aus Römerzeiten besiedelt, aber im Delta der Isar jedes Mal bei Hochwasser bis zur obersten Mauerspitze im Wasser stand, verlegte Herzog Albrecht I im Jahre 1379 die Stadt an ihre jetzige Stelle. So laufen wir von Plattling gut 12 km ins Naturschutzgebiet bis zur Mündung der Isar. Die einzigartige Auenlandschaft im Flussdelta umfasst 2. 800 Hektar und ist noch weitgehend naturbelassen, in Überschwemmungszeiten weites Sumpfland, das wir jedoch nicht erkunden können. Bei der Ortschaft Isargmünd müssen wir von den Hochdämmen, die umliegend das urbane Kulturland vor Überflutung schützen, auf rumpelige Feldwege einbiegen, die, je näher wir der Mündung kommen, feuchter und modriger werden. Wir erreichen nach 13 km die Mündung der Isar in die Donau gegenüber der Stadt Deggendorf. Jenseitig steigt steil nur einen halben Horizontalkilometer entfernt die Barriere des Vorwaldes bis auf 1000 m Höhe an. Läge der 150 km lange und 40 km breite Sperrriegel des Bayerischen Waldes nicht vor der Mündung, die Isar wäre immer weiter nordwärts fließend, wohl zum längsten Fluss Europas geworden und mündete heute in die Barentsee.
Ein älteres Bauernpaar sitzt im blauen Arbeitsgewand auf einer Bank vor ihrem Hof und sie schauen verhalten verwundert auf die Vorüberlaufenden. Ich nicke grüßend hinüber und suche einprägend das wunderliche Bild des Friedens in mich aufzunehmen. Sie lächeln zurück. Die friedliche Stille dieser alten Menschen begleitet mich noch viele Kilometer. Suche ich noch, was sie schon gefunden zu haben scheinen: Heitere Gelassenheit ohne das drängende Bedürfnis nach Aufbruch und neuer Erregbarkeit. Dass Sitzenbleiben keine Folter ist, sondern Ausdruck von Gelassenheit und Selbstannahme?. Nicht immer machen wir die Erfahrung, dass wir im Prozess des Distanzlaufens verwandelt und förmlich auf ein höheres Lebens- und Erfahrungsniveau katapultiert werden. Nein. Manchmal oder gar oft ist das Weitlaufen nur anstrengend und strapaziös und man hat nichts in sich als die Gewissheit, dass durch eine gewisse Stringenz der Sturheit Empfindungen, die man während des Weitlaufens gewünscht und ersehnt hat, sich manchmal erst nach bestandenem Lauf und nach Tagen einstellen.
Ich fühle heute von Beginn an, wie zerbrechlich ich bin. Ein Körper ohne Kontur des Willens. An Legionen unbenennbarer Zahl sitzen mir bakterielle Erreger im Hals, in verdichteten Gewalthaufen bis ins Lungengeäst. Im Nebel der Unwissenheit entsteht aus der Sorge die Angst. Ich bin zwar zum Arzt gegangen - vom Isarlauf erzählte ich nichts. Gerade er, der Weitläufern jegliche Bewunderung und Sportlichkeit abspricht, hätte mir den Lauf sowieso drastisch verboten.
Wären heute nachtschwarze Gewitterwolken über den Kamm des Bayerischen Waldes gezogen und hätte es aus ihnen schon so unaufhörlich geregnet wie es in zwei Tagen regnen wird, wenn wir durch München laufen, vielleicht hätte ich dieselbe Entscheidung treffen können wie Uli Schulte, der aufgrund der Kolonisation von Staphylokkoken, die in seinem Blut frevelnd zirkulierten, nicht nur aus Vorsicht, sondern aus Verantwortung weise und frei (wie jeder Läufer dies können sollte), auf den Lauf verzichtete. Wie die Nibelungen ziehe ich mit meiner Schwäche, Fieber habe ich nicht, in einen Lauf ungewissen Ausgangs. Mehr als einmal begleitet mich Todesfurcht, nicht unbegründet. Die Halsentzündung ist akut, die Schwäche erträglich, der immunologische Kampf lungeninnenwärts mahnend, aber den Lauf nicht hemmend. Mehr als die körpereigenen Symptome mahnen und warnen dringlichst nie vergessbare Erinnerungen:
April 2002 beim Hamburg Marathon, Hitzemarathon Regensburg, 1. Juni 2003 und zuletzt Februar 2005 in Bad Füssing. Läufer sterben, ich laufe an Ihnen vorbei, verhüllt am Straßenrand.
Ich hoffe, dass die Sorge die ich habe phantastischer ist, wie meine tatsächliche Gefährdung. Aus dem eintönigen Grau des Mittags heraus laufen wir dem Frühling entgegen. Mit der Sonne, die auf einmal über das Land und den Fluss flutet, durch treibende Wolkeninseln, wächst unsere Anhänglichkeit zum Leben, die Unbedingtheit des Laufens erfreut uns nun zutiefst und die Weite der Landschaft erahnen wir im grünen Kornland beidseits des Flusses. Diese Feierlichkeit der Natur ist nicht zufällig. Heute haben wir Pfingstmontag. Sonn- und Feiertage verändern durch die veränderte Grundstimmung Landschaften ins religiös Symbolhafte.
Die Sonne leuchtet aus dem Fluss, ihr entgegenzulaufen tut gut. Wir folgen auf dem Hochdamm jeder sehnigen Biegung der Isar. Der Fluss spricht nicht zu mir, noch nicht, ich habe keine Freundschaft mit ihm, noch nicht. Später nun doch wieder unerfreut geworden hangle ich mich auf der Stundenleiter den Nachmittag hinunter. Ich laufe einfach, das muss heute genügen. Ich laufe ohne innere Beteiligung. Ich laufe, also wage ich mein Leben. Solange ich laufe habe ich ein Ziel. Weil Stehenbleiben erst recht keine Alternative wäre und weil die Trägheit zu den sieben Todsünden gerechnet wird, vor denen ich mich mein Leben lang hüten will, laufe ich aus Trotz.
Violette Blumen sammeln sich in dichten Teppichen an den Dammabhängen. Die Farben strahlen uns mit höchster Frequenz entgegen. Wären unsere Sinne nur geschärfter für dieses Farben- und Lichtbombardement, wir müssten auf der flusszugewandten Seite der Böschung in Deckung gehen. Ein kühler Wind schaukelt die Erlengipfeln im Wald abwärts.
Niederbayerische Buben, von der gestrigen Sauferei, zu der man in dieser Gegend jede Woche mehr als eine Gelegenheit findet, noch nicht nach Hause zurückgekehrt, rufen: Hey, dou gähds affa“! Ich vertraue, was ich bei der Zuverlässigkeit der Wegmarkierung (mit den drei Punkten) durch Ulrich Wetzel nie mehr tun werde, dem menschlichen Argument und werde enttäuscht. Sie lachen restrauschfroh und infantil.
Vom Start weg laufe ich alleine. Einem Läufer anzuschließen, mich bekannt zu machen, neugierig zu fragen und ungeduldig zuzuhören, fällt mir schwer. In meine Erkrankung habe ich mich zu sehr hineinkonzentriert, ganz auf Sparflamme mühe ich mich müde. Erst am Nachmittag treffe ich auf einen Etappenläufer, der nur heute dabei bleiben möchte und dessen Namen mir leider nicht mehr bewusst ist. Er zahlt den Tribut, den jeder zahlen muss, der sich auf das Wagnis Weitlauf zu impulsiv und kraftvergeudend einlässt. Von Ermattung und seelischer Zerrüttung spricht er, weil er in seiner Not nicht mehr daran glaubt das Ziel zu erreichen. Der fremde Läufer neben mir beginnt seine Lebensgeschichte, die in den letzten Jahren eine Krankengeschichte geworden ist, zu erzählen; überwundener Krebs, zutiefst bedroht mit einem zu frühen Tod, überwunden, weil wieder ins Laufen gekommen, fürs Leben, für die Familie, die Kinder noch klein, zurückgewonnen.
Nicht die Isolation ist der Weg, noch gibt es ein Daheim im Kokon der Selbstgenügsamkeit. Wer unterwegs ist laufenderweise sucht einen Weg zu sich. Menschlich findet er ihn in der Begleitung durch andere. Das ist Laufen- manchmal gibt es ein Leben zurück – manchmal nimmt es eines von uns. Wir sind und bleiben Suchende, Staunende so oft und so gut wir können.
Was erlebe ich an diesen Tag? Mal wandert ein Kirchturm ins Auge, eine Brücke voraus, die ich zu erreichen suche, ansonsten Flussbegrenzung, dahinter ausgerolltes Land, das wir durch den grünen Vorhang aus dichtem Uferholz nicht zu Gesicht bekommen: der Gäuboden beginnt südostwärts von Regensburg und reicht an der Donau entlang bis nach Osterhofen, begrenzt durch das ansteigende tertiäre Hügelland. Hergewehter Löss (keltisch : „göuwe“ für gelb), zerriebener Gipfelschutt, jahrmillionenlanger Abtrag vom variskischen Grundgebirge des Bayerischen Waldes, der geologisch älter als die Alpen einmal so hoch wie heute der Pamir oder der Hindukusch war.
Jemand der seinen Frieden mit sich gemacht oder ihn von wo anders her empfangen hat, sitzt unerwartet auf einen Stuhl mitten im Weg, drei lange Stunden bis alle angekommen sind, sanft lächelnd, um unsere Not wissend und uns rechtwinkelig zur Stadt weisend, Pastor Ulli Schulte.
Unvergleichlich gelaufen, ohne jedes Erschöpfungszeichen ist heute wieder Rene Strosny, schon Sieger des Spreelaufes und nun wiederholt und klar unser bester Mann. Kommen die roten Wangen von der warmen Dusche, Rene, oder schon vom berauschenden Weizenbierkonsum, der dir, so uneingeschränkt fortgesetzt, den Gesamtsieg kosten könnte?
Wie schon beim Spreelauf hat Helmut Schieke, selbst ein Langstreckengott und Australiendurchquerer die ganze Organisation am Zielort meisterlich geschultert am Buckel. Er weist mir eine komfortable Liege im Großzelt zu, das im Hotelhof, weil wir uns auf einer Pilgerstrecke nach Altötting befinden für alle aufgestellt wurde, die keinen Platz im Hotel nebenan finden. Gerade jetzt packt mich noch ein Schüttelfrost mit mächtiger Faust und macht mich ganz wehrlos. Trotz des plötzlich auftretenden parkinsoniden Zitterns beider Arme gelingt es in einer konzentriert ausgeführten Bewegung die nassen Laufsachen vom Körper zu reißen und mich bis zum schieren Ersticken in meinen Schlafsack zu verstecken. Warmgezittert schaffe ich nach 90 Minuten den Weg über den Hof zur heißen Dusche im 1. Stockwerk. So wieder zurückgekehrt unter die Lebenden, die schon ausgelassen und unausgelastet im Gastzimmer den freundlichen Begrüßungsworten der zweiten Bürgermeisterin von Dingolfing lauschen.
Horst Preisler, im Sommer wird er 70 Jahre alt, wird mit Recht mehrmals in der Ansprache der zweiten Bürgermeisterin erwähnt, die so selten attraktiv ist wie Bürgermeisterinnen überhaupt selten bei der CSU sind. Horst hat letztes Jahr effektiven Eindruck hinterlassen, seine sportliche Lebensleistung, sein Charme und die Weisheit, die er wohl nur dem Laufen verdankt, sind bewundernswert und einmalig.
Mich hungert nicht. Gerade mal die Hälfte meiner Rissottoration kann ich essen, wo doch Steppenhahn sich neben mir schon die vierfache Portion mit sichtlichen Essgenuss zu Leibe führt. Ob auch die vierte Genusszigarette für heute deswegen schon die letzte sein wird? Das zweite Weizenbier legt mich schon flach. Ich bin wirklich nicht gesund. Die Nacht dehnt sich. Die Glocken der Stadtkirche vierteln die Stunden. Ich bleibe erregt durch die Ereignisse des Tages. Stetig ohne Sinn und Ziel denke ich hilflos im Halbschlaf Verwirrendes, ohne das Rad der kreisenden Gedanken anhalten zu können. Über uns entlädt sich ein Frühlingsgewitter mit hoher Dezibelzahl und der Regen von böigen Winden gegen unser Quartierzelt gejagt, ergießt sich mit der Gewalt eines Wasserfalls. Sollte uns nur einer der 1000 Blitze treffen, wir müssten morgen wenigstens nicht weiterlaufen. Gewiss sähe auch Ulrich Welzel, Architekt und Stratege des Isarlaufes, die Gefahr, denn das die Sensationspresse den Wahnsinn des Weitlaufes dann wieder als verantwortungsloses Unternehmen brandmarken würde, scheint auf der Hand zu liegen.
Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen, hab mich wohlig gefühlt in doppelten Schichten pelzigen Schlafs und unter freundlicheren Traumdecken. Wie viel Einfaches genügt für die Zufriedenheit des Augenblickes
2. Tag: Von Dingolfing nach Freising – 75 km
Vom Gewitter ist natürlich zur Startzeit um 7: 00 Uhr morgens nichts mehr übrig. In der Nacht hat sich die aufgeladene Atmosphäre entblitzt. Über uns hängt tief ein grauer Wolkenteppich, horizontal ausgespannt vom frühen Morgen an bedrückt er unsere Stimmung Vor dem Hotel warten wir alle auf Ullis Zählappell. Ich, weil ich mich immer noch unberechenbar krank fühle, angezogen mit einer langen Tight, meinen lila Kopftuch und der gelber Regenjacke, darunter noch drei Schichten zur Vorsicht, sehe, das ich der Einzige bin der heute zu einem Winterlauf aufbricht. Von der Stadt sehen wir nicht viel, gestern blieb auch keine Zeit zur Erkundung. Gleich biegen wir auf den Dammweg ein, der die Isar beidseits, grünbraun treibt sie uns träge entgegen, in ein gradlinig verlaufendes Flussbett zwängt. Die Isar ist ein von der stromerzeugenden Energiewirtschaft misshandelter Fluss. Im Oberlauf zweigt man ihr das Wasser in Nebenkanäle zur Stromgewinnung ab und hier am Unterlauf durch Sperrriegel aus Dämmen staut man ihren freien Lauf in langgestreckte Seen.
Schon von Weiten sehen wir auf der rechten Seite, im langsamen Näherkommen das riesige würfelkantige Gebäude des Kernkraftwerkes Isar I und den kalkweißen Kühlturm des Kraftwerkes Isar II immer mehr zur monströsen Wuchtigkeit anwachsen. Schiene die Sonne und schiene sie von Norden zu uns herüber, wir müssten Kerzen anzünden oder Taschenlampen dabei haben, liefen wir durch den Kernschatten des 165 m hohen Kegels. Der Schlund des Turmes in der Höhe misst 85 m, im Durchmesser so groß wie ein Fußballfeld. Der weiße Dampf, Isarwasser, kühlt den Reaktor im Innern. Hinter den Kraftwerken fließt das Wasser, um drei Grad erwärmt, zurück in die Isar. Fischer, die hier bevorzugt angeln, sagen, man fänge hier insbesondere im Winter größere Fische als im Stausee weiter oben. Von der Gewalt menschlicher Technik erstaunt und beunruhigt gleichermaßen schaue ich hinüber zu den Kraftwerken, die Pause an diesem Verpflegungsstand aber nicht wie sonst genießend. Auch die Graugänse, die uns auf den Dämmen den Weg versperren, sind in der Nähe des Atommeilers brütend, angriffslustiger geworden. Mehrmals werden wir von den Weibchen, die ihre Küken verteidigen, zischend angegriffen. Ernsthaft verletzt oder todgebissen wurde aber keiner von uns.Heute laufe ich von Beginn an vor meiner Gruppe. Trotz meines Infekts bin ich erstaunlich belebt in Schwung gekommen. Mike Friedl, zuhause in Istanbul, gut bekannt schon vom Spreelauf, weil er einen Geschäftstermin heute Nachmittag wahrnehmen muss, läuft kurz nach Ohu an mir vorbei, immer mehr an Geschwindigkeit aufnehmend. Auf dem breiten Dammweg kommen wir gut voran. Freie Blicke voraus erkunden schon die Rundungen eines zweiten Stausees, der mir von einem 60 km Trainingslauf aus Regensburg schon bekannt ist. Die Eintönigkeit vor der weiten Wasserfläche ist nur zu ertragen, weil ich die Nähe der Stadt Landshut triumphierenden Gefühls mehr erspüre als das sie mir geographisch bewusst wäre.
Sonnenstrahlen kommen vereinzelt durch die Ferne, wo sich die Feste Trausnitz auf einen Berggrad über der Stadt auftürmt, von Ludwig I dem Kelheimer 1204 erbaut. Von dem Lauf durch Landshut ist mir kaum noch ein Bild erinnert. Den Turm der Martinskirche mit 130 m der höchste Ziegelbau der Welt, sehe ich nicht und von der Innenstadt nur einen Kiosk, bei dem ich auf dringliche Anfrage kein Dosenbier verkauft bekomme. Durch einen Park laufend bemerke ich die Vorbereitungen zur Landshuter Hochzeit, die alle vier Jahre über Wochen als Touristenspektakel gefeiert an die Vermählung von Herzog Georg dem Reichen mit der polnischen Königstochter Jadwiga im Jahre 1475 erinnert. Weil der wollüstige Herzog sich an die strenge katholische Ehemoral nicht zu halten gedachte, sich mit Kurtisaninnen vergnügte, steckte er, vielfach historisch bewährt, Jadwiga in Burghausener Klosterhaft. Weil Herzog Georg kinderlos starb, fiel das Herzogtum Niederbayern, was wir heute noch bedauern, an die Münchener Linie der Wittelsbacher.
Lächelnd und enorm entspannt holt mich Rene am östlichen Ausgang der Stadt gelegenen Verpflegungsstand ein. Bevor ich mir den ersten Becher Kola genehmige, winkt er weiterlaufend schon zu uns zurück. Der nächste Streckenabschnitt führt durch ein Naturschutzgebiet, auf einer Länge von 14 km sei es nicht möglich die Läufer zu versorgen. Weil das graue lautlose Licht von oben auf seinen Weg durch das Waldgeäst ganz in den grünen Bereich mutiert, laufen wir auf Isarwegen in einer grünen Welt, lindgrünes Sprossen des Frühlings. Olivgrau fließt die Isar entgegen, jetzt schon weniger kanalisiert als nordöstlich der Stadt; monolithische Steinbarrieren, ob künstlich angelegt oder eiszeitliche Relikte regulieren den Wasserstrom wie Flussbremsen.
Trotz der Monotonie spüre ich zuversichtlich, dass ich auch heute ankommen werde. Um den Hustenreiz zu mildern und meine Lunge zu schonen, berge ich mich in mein Kopftuch, wie eine Muslim unter ihrer Tschuka und atme schwerer, fast saugend, aber erwärmtere Luft ein. Psychologisch kann man sich auch hinter einem Tuch von der Außenwelt abschotten, sich verstecken, um in eigens Schicksal einzukehren.
Allmählich werde ich von Läuferinnen und Läufern überholt, die eine Stunde nach mir gestartet sind: Rene Strosny, Michael Krüger, Wolfgang Braun; vom Spreelauf kenne ich sie, sie werden gewinnen. Carmen Hildebrand, Hans-Theo Huhnholt mit dem ich mir heute ein Zimmer teile, Norbert Rössler als Autor von Beiträgen in der Zeitschrift Ultramarathon bekannt, Ilona Schlegel, Olaf Schmalfuß mit dem ich zwischen den Schneebergen im Hinterauntal Unvergleichliches erleben werde, Hermann Böhm, ein Oberpfälzer Landsmann, Sebastian Schöberl und Werner Selch, die sich als einzige glaube ich den Luxus von Biergartenbesuchen auf der Strecke leisten (Sebastian kennt sowieso jede Einkehr an der Isar). Trotz ihrer Anstrengungen grüßen Sie alle heiter, manch einer nur mit einem angedeuteten Kopfnicken, aber durchwegs aus Mimik und Gestik ableitbar mit zuerkennenden Respekt und freundlicher Anerkennung.
Um mich zu beschäftigen, existentielle Fragen finde ich erst morgen aus dem Unterbewusstsein hochsteigen, strukturiere ich die Strecke vor mir in nahe Teilabschnitte, die ich, wenn die Naturmarkierung, manchmal ein umgestürzter Baum oder eine Flussbiegung erreicht ist, mit froher Genugtuung passiere und erlebe, wie nur aus dem bloßen Durchhalten auf wunderbare Weise angeblich unüberbrückbare Distanzen bewältigt werden können. Erleichtert bin ich als ich auf einen Versorgungsstand treffe, der nicht da sein sollte und müsste. Ich trinke gierig, alles klebt an mir – die Krankheit verschwitzt sich sukzessive.
Weil die Sonne nun doch durch das blau-weiß treibende Nachmittagsgewölk scheint, öffne ich meinen Kleidungspanzer dem Licht und könnte Jubeln über diesen Ausbruch von Glück und vor Vergnügen an diesem Fluss entlang unterwegs zu sein. An der Isar kommt einem das Gefühl für Strecke und Orientierung abhanden, so monoton und unspektakulär verläuft der Flussweg, zumindest hinter München mündungswärts. Denen, die anders wie wir, nur wandernd unterwegs sind, darf empfohlen werden die Isarwege ja recht oft zu verlassen, um Dorf und Land beidseits des Flusses ausgiebiger kennen zu lernen. Und doch wird uns der Fluss zum verwunschenen Land. Alle Alltagswirklichkeit trägt er mit sich fort. Wer hier läuft, vergisst die Welt voll Lärm und Gezänk. Das ist die Stimme des Flusses. Was an den Rändern passiert, passiert ohne uns zu erregen oder zu beunruhigen. Alles wäscht dieser Fluss von uns ab, was wir noch an Sorgen oder Ängstlichkeiten an uns hatten. Eine mystische Kraft überträgt sich auf uns und die Dauerbewegung verführt uns in eine Ahnung anderer Lebensgestaltung.
Wären die Markierungen nicht nach rechts abgezweigt, an Freising wären wir vorbeigelaufen. Die weiße Klosterburg mit dem Freisinger Dom zieht mich magisch an, erbaut auf einer eiszeitlichen Schutthalde, die der auftauende Isargletscher weitestens bis an diesen Ort verfrachtet hat. Ich bin enttäuscht als die Streckenmarkierung vom Heiligen Berg abbiegt.
Im Freisinger Stadtwappen, wer weis heraldisch woher, befindet sich der Kopf eines Mohren. Papst Benedikt XVI, vor seiner Wahl Erzbischof der Diözese München-Freising hat nach seiner Wahl dieses die Stadt repräsentierende Symbol in sein Papstwappen aufgenommen. Nun das wäre noch nicht des Aufwandes zu erzählen wert, wäre da nicht diese vermeintlich uralte Prophezeiung, die besagt, wenn sich während des Pontifikates des Vorgängers deutliche prophetische Zeichen hierfür fänden, werde ein Bischof aus Schwarzafrika aus dem nächsten Konklave vom Heiligen Geist und durch die Stimmen der Kardinäle gewählt, den Stuhl Petri besteigen. Die Hoffnung der katholischen Kirche wird aus Afrika kommen.
Durch ein idyllisches Fleckchen Stadt laufen wir. Alleen, Bänke auf denen junge Leute sitzen, strebernde Studentinnen der Agrarwissenschaft, Bierbrauer und Elitegenetiker, Bäche mit schnellen Wasser. Einen wirklich alten Mann auf einer roten Bank frage ich, wie weit es denn noch sei. Er versteht mich nicht, antwortet nicht, sitzt starr vor mir. Ich verzichte darauf ihn zu rütteln und laufe mit seltsamen Gedanken weiter davon.
Das heutige Ziel ist unspektakulär, ein Gasthof eingezwängt ein wenig in eine Häuserfront etwa zwei Kilometer außerhalb der Stadt. Das Inventar habe ich bereits vergessen. Aber wir haben reichlich Platz heute nacht, für alle gibt es ein Zimmer. Erste Verarztungen müssen vorgenommen werden, insbesondere an meinen kleinen Zehen, die genealogisch missgeburtlich auf mich vererbt, sich blutig reiben. Wer weit läuft, wird Verwundungen bekommen; ein mitlaufender Freund, kann man sich selber nicht helfen, sollte die Kunst des Pflegens erlernt haben.
3. Tag: Von Freising nach Wofratshausen – 72 km
Wir verlassen Freising, Ortsteil Weihenstephan, berühmt für Butter und Bier, ohne aber die Agrarfabrik zu Gesicht zu bekommen, im gemächlichen Tempo. Die Isar fließt in grüngrauer somnolenter Behäbigkeit entgegen; auch wir tun ein gleiches und nehmen wenig interessiertere Notiz von ihr. Heute durch den Dauerregen, der uns etwa gegen 10 Uhr auf freier Strecke überrascht und bis zum Nachmittag mit unverminderter Heftigkeit andauert, sind wir nicht an der Natur interessiert, sondern nur wie dieser Tag zu Ende gelaufen werden kann.
Mit Hans Joachim Mayer, Vorsitzender des 100 Marathon Clubs, mit gut 800 absolvierten Läufen im nationalen Marathonranking ganz in Front, werde ich gut und froh bekannt. Das es bei Mehrtagesläufen zu so intensiven Begegnungen voller Eindrücklichkeit und Dauer kommt, liegt an einer Erfahrung, die uns der Alltag nicht bieten kann. Wo das eigene Schweigen oft über Stunden, manchmal erzwungen durch das Fehlen eines Mitläufers, manchmal freiwillig gesucht, zur elementaren Erfahrung wird, wird das selbstgesprochene Wort wie das vom Freund empfangene, in seiner elementaren Dichte und Wichtigkeit gehört. Diese Grunderfahrung bleibt den in dichten Gruppen zusammengeballten Nordic-Walkerinen fremd, die sich zu ihren stöckelnden Ausflügen ins Freie nur alibimässig treffen, um ungestörter als zuhause im kratzenden Stakkato ihrer Stöcke ohne Aufhebens besinnungslosen Alltagsratsch von sich geben.
Auf dem gradlinigen Uferweg laufen wir also die nächsten zwei Stunden ohne besondere Andacht dahin; es gibt keine Sinnesreizung, die unsere Aufmerksamkeit erregt, bis uns der schrille Düsenlärm landender Flugzeuge, die im pausenlosen Minutenrhythmus den Franz-Josepf-Strauß Flughafen im Erdinger Moss anfliegen, aus unserer Isaridylle reißt, an die wir hofften uns doch noch zu gewöhnen.
Allmählich während unseres morgendlichen Trottlaufes verdüstert sich der Tag, als begänne die Dämmerung schon. Dann fällt der Regen, nicht als bayerischer Landregen, der sich in einer Stunde oder zwei ausgeschüttet hätte, sondern über uns hängt ein Tiefdruckgebiet, das, weil kein Wind aufkommt, sich bis zum letzten Wassertropfen über den Münchener Raum, den wir heute in seiner ganzen Tiefe durchqueren, ausregnen wird.
Eingehüllt in Regenjacken, das Kopftuch wieder tief ins Gesicht gezogen und mit der Gleichgültigkeit eines hinduistischen Wanderasketen ertrage ich den Dauerregen. Wir haben gelernt das Wetter, es ist wie es ist, zu akzeptieren. Was nicht zu ändern ist, nehmen wir an, es unterliegt nicht unserem Willenseinfluss. Dieser aus der stoischen Philosophie Epiktets (Handbüchlein der Ethik) entliehene Grundgedanke, hat schon manchen Weitläufer, ohne das es ihm bewusst gewesen wäre, zu einen recht bewundernswerten Philosophen der Stoa gemacht.
Ein Schild am Rand zeigt mir den vertrauten Orientierungsplan des Englischen Gartens. Hätte nicht Kurfürst Theodor 1789 diese Auenwildnis, die als königliches Jagdrevier genutzt wurde, von seinen amerikanischen Kriegsminister Graf Rumford, der auch den Münchenern befahl, durch seine Freundschaft mit Benjamin Franklin belehrt, Blitzableiter auf den Hausdächern anzubringen, nach englischer Gartenbaukunst in einen Volkspark umwandeln lassen, schon längst wäre dieser Park bis an den Rand des Flusses überbaut. Schade am Chinesischen Turm laufen wir nicht vorbei. Allesamt hätte ich sie gerne bedient, meine Münchener Klischees: Biergärten, Föhnschwermut, Leichtlebigkeit, das Isarflimmern inmitten weißer Kieselstrände, sommerheiße Tage auf Badewiesen mitten in der Stadt, bevölkert mit jungem Volk, meist in der naturistischen Freizügigkeit der Großstädter. Ich, den Voyeristen in mir durch erhöhtes Tempo und Atemnot unterdrückend, laufe weiter.
Das wir in einer Großstadt unterwegs sind, merken wir heute nicht. An der Isar sind und bei diesen Regen keine Menschen im Freien unterwegs. Dieser Regen und dieses Grau trennt uns von allen lebenden Dingen. Manchmal haben wir das Gefühl ganz verlassen zu sein. Die aber, die wir treffen, wir bedauern sie aufrichtig, sind unsere Vorsorgungsteams, unter weiß blauen Regenschirmen frösteln sie mehr wie wir.
Das große Überholen beginnt heute auf der Brücke über das Oberföhringer Wehr. Einmal im Sommer werde ich diese Strecke noch einmal laufen. Ausgiebig dann und nur bei mindestens 30 Grad. Aber fröhlich wo kommt dieser Optimismus her werde ich überholt von Johanna Kress, die mutig enteilt in die Finsternis der Kastanienallee und deren Entschwinden ich zum Anlass nehme, nur wenig ermutigt, aber weiter durch den Regen zu traben. Unter klassizistischen Betonbrücken, einbögig überspannen sie die Isar, über denen für uns unsichtbar hinter der Regenwand der Großstadtverkehr braust, laufen wir durch die Stadt München, eher schleichend und vor Nässe bis auf die Haut langsam erkaltend.
Ein kurzer Blick nach rechts und ich habe gerade den Hintereingang des Deutschen Museums, das auf einer Isarinsel erbaut ist, passiert. Hoffentlich überfällt mich jetzt nicht ein Schüttelfrost und schubst mich aus dem Rennen. Gedankenflutend kommt es mir in den Sinn, wieder unter Brücken laufend, dass der Bahnhof nur zwei Kilometer entfernt, für mich heute leichter zu erreichen ist als das noch 35 km entfernte Wolfratshausen. In zwei Stunden bin ich schon daheim, wäre gleich bei meinem Eintreffen am Bahnhof ein Zug nach Regensburg abfahrbereit. Gegen diese Verführung, die sich gedankenplanerisch visualisieren lässt, muss ich mich heftig zur Wehr setzen. Setzte ich diesen Plan aber spontan in die Tat um, wie könnte ich mir in Zukunft je vergeben?. Schon die alten Römer wussten in Krisen Rat: „per aspera ad astra“ (aus der Mühe der Anstrengung gelangen wir zu den Sternen).
Erst kürzlich geteerte Fahrradstraßen führen an einem Tiergehege vorbei, Hellabrunn. Ein Hinweisschild gibt die Distanz bis ins Trockene für heute an: 30 km nach Wolfratshausen. Welche Stimmungen mag bei meinen Mitläufern dieser Hinweis unterschiedlich ausgelöst haben? Noch 30 km in diesem Regen. Wieder, wie oft in einer Krise habe ich Mitleid mit mir. Könnte ich mir nicht den Fuß verstauchen, flüstert die Stimme der Ergebung. Ein Ultraläufer jammert nicht, er kämpft (Ingo Schulze), appelliert der Widerstand. Oh, du läufst jetzt einfach einen Kilometer, das ist nicht so weit. Ein weiteres Weilchen später bist du fast schon an die 20 km herangelaufen. Du siehst, du kommst voran, nur Geduld mein Herz, auch der Regen wird enden.
Der Weg am Fluss führt über Steigungen und wellenartig durch bewaldete Flusshügel. Nicht zufriedenstellend ist das Bemühen der Radwegplaner gelungen, untrainierten Großstädtern den Weg nach Süden zu erleichtern. Von der Renaturierung der Isar, die durch zähe Kämpfe naturschutzverbündeter Bürger initiiert und in den letzten Jahren erst zum Abschluss gekommen ist, sehen wir hinter den grauen Vorhang des Regenfalls nichts. Ehrlich: jetzt interessiert es mich auch nicht mehr. Eric Tuerlings begleitet mich von nun an. Das beste was mir heute passieren kann. Wir schaffen die nächsten zwei Stunden zusammen und finden nicht nur den Weg vor uns, sondern auch den Weg zueinander. Das passiert einem so nur beim Weitlaufen. Du findest Nähe und oft, sehr oft Freundschaft. Und siehe: Der letzte Regentropfen fällt. Wir laufen wieder ins Isartal zurück, heraus aus den bewaldeten Talflanken an den Isarkanal, wo wir auf gefährlich schmalen Wegen hinter einander laufen, mehrkilometer weit. In der Ferne sehen wir noch unscharf konturiert eine begrenzende Hügelkette. „Ob wir je bis dahin kommen? – Eric lacht nur amüsiert –
Ein Weilchen üben wir uns im Gehen und merken, dass wir nicht mehr als 90 Sekunden pro km im Vergleich zu unserer Fortbewegung mittels „Schlappschritt“, den wir noch als Laufen bezeichnen, verlieren. Der letzte Verpflegungspunkt und da sagt man uns, dass es zum Ziel nur noch 5 km wären. Eric schlägt vor – gerade wollten wir uns zu Broten und Bier setzen, die Strecke doch in einem Aufwand zu laufen. Wir kämen dann noch unter 9 Stunden ins Ziel. Zeiten, dem Ranking, Konkurrenz und Kampf predige ich den Relativismus und nun siegt der Ansporn und die Motivierung eines Freundes. Stetig leicht eine Teerstraße bergauf laufend, zählen wir die km rückwärts bei steigendem Puls. Auf einmal sind wir oben, über die Isarbrücke zum Ortsschild von Wolfratshausen. Eric beschleunigt mit unversiegten Kräften, das Ampelrot ignorierend. Eine Holzbrücke über die Loisach (erfahre ich erst später auf Nachfrage) noch überquerend und wir sind im Ziel. Unsere Übernachtung findet heute im Humplbräu statt. Steppenhahn und Brigitta Biermanski, Transeuropaläuferin bis zum Ende, teilen heute mit mir das Zimmer.
4. Tag. Von Wolfratshausen nach Fall/Sylvensteinspeicher –59 km
Beim Humplwirt lässt sich`s gut logieren. Fast im Normallot fand ich zu Appetit und Konsum mehrerer Halben Schwarzbier, das meinem genesenden Gemüt wieder barockeren Halt im Leben gab und mich von asketischen Bettelmönchideal sehr weit entfernte.
Ich merke es beim Ablaufen vom Huplbrau in der Früh um 7:00 Uhr. Da willige ich gerne in die Führungsarbeit von Hans-Joachim Mayer ein, der zuverlässig und in angenehmer Weise den Weg für uns sucht und mich vor dem Einschlafen rettet, indem er meine Morgenmüdigkeit stets durch botanische Hinweise auf seltene Pflanzen und Orchideen zerstreut. Manchmal laufen wir hoch über dem schluchtartig eingeschnittenen Isartal und erahnen welche Naturkräfte im Laufe der Erdgeschichte notwendig waren, um diese spektakuläre Landschaft zu formen. Der Weg führt nicht mehr an der Isar entlang, sondern über Fleckviehweiden, durch kühle Fichtenwälder und über Wiesen aus denen die Frühsonne die Feuchtigkeit des niedergegangen Regens als Dunstnebel dem hellen Tag entgegenschweben lässt. Wir sind frohen unbeschwerten Herzens. Vor uns die ersten Berge mit tiefen ins Tal herabführenden Schneefeldern, wenigstens meinen wir aus der Ferne dies zu erkennen.
Oberbayerische Streusiedelungen auf Anhöhen, die erste Mahd der Wiesen beginnt, erreicht, sehen wir vor uns wie auf einer Kette aufgefädelt die Läufer in ziemlichen Abstand bis zur nächsten Hügelkuppe unterwegs sein. Jeder hat heute das Herz eines Löwen. Diese Landschaft steigert die Lust unterwegs zu sein ungeahnt. So erfahren wir, welchen Einfluss Wind und Wetter auf unsere Empfindungen haben und das wohl auch das Besondere einer Landschaft sich nachhaltig unserem Gefühl aufdrängt
Eine Teerstraße hinunter und ich treffe auf Ulrich Welzel im Gespräch mit einigen „Bullen von Tölz“ vertieft, die kurze Laufhosen tragen. Er schickt mich weiter, ermutigt für den nächsten Verpflegungsstand, den ich in Bad Tölz treffen werde. Smaragdgrün vor Bad Tölz und direkt an der Isar durch die Stadt laufend, erleben wir hautnah, welche Urkraft hier die Isar hat, die zurecht von den Kelten, die vor den Römern und Oberbayern in dieser Gegend siedelten, die „Reißende“- isara – genannt wurde. Auf meinem Weg zur Verpflegungsstelle laufen die wuchtigen Mannsbilder von hinten zu mir auf. Wir kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus das uns der Bürgermeister von Bad Tölz, bei Leibe kein Sportsmann, darum um so bewundernswerter sein Einsatz für uns, einige Kilometer begleitet.
Wir als Läufer, die wieder weiterziehen sind freundlicherer Aufnahme würdig, als die ausgemergelten Elendsgestalten der Konzentrationslager, die noch Ende April 45 von SS auf mehreren Todesmarschrouten im Kollektiv gnadenlos dezimiert wurden. Das zähe Erinnern an den Dachauer Todesmarsch fand in den Gemeinden entlang der Todesstrecke unterschiedliche Resonanz. Mit einer Reihe von Mahnmalen wollte man der Opfer dieses Massenmordes gedenken. Der Tölzer Stadtrat konnte angesichts leerer Stadtkassen oder aus anderen Gründen keine Finanzierung beisteuern. Erst durch eine öffentliche Sammlungsaktion einer Bürgerinitiative bekam Bad Tölz sein Mahnmal. Auch hat sich der Tölzer Stadtrat anfänglich geweigert zum Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager eine israelische Delegation von Holocaustüberlebenden in der Stadt zu bewirten. Vor wenigen Tagen erst wurde dieser skandalöse Beschluss revidiert, möglich das der Stadtkämmerer sich gezwungen sah deswegen die Kurtaxe zu erhöhen.
Danach führt der Weg unter irisierendem Licht, das aus dem Fluss in die Augen blendet auf fremdartigen Wegen weiter ein Hochtal entlang. Für eine Stunde staune ich: bin ich in Norwegen, im Hochland hinter den Fjorden oder in den kanadischen Rocky Mountains. Krüppelkiefer, Buschland, Birken säumen im niedrigen Wuchs das Hochmoorgebiet neben unserem Weg. Die Sonne erhitzt uns – zum ersten Mal klebt die Zunge am Gaumen und das Schlucken fällt schwer. Dr. med. Hans Drexler, spreelaufbekannt, hat heute seinen olympischen Tag. Er läuft engagiert, mit dem Risiko des Verbrauchs letzter Reserven. Er kämpft und fordert hartnäckig von sich diese Anstrengung obwohl ihm wie mir eher nach einer Rast im Biergarten wäre. Es ist gut, dass wir nicht darüber reden.
Vor dem Anstieg zum knapp 1000 m hohen Pass, den wir 17 km vor dem Ziel noch überwinden müssen, beginnt der alpine Teil unseres Rennens. Der Anstieg führt auf einen von Regenfällen ausgespülten Weg – Gott sei Dank im Schatten – mit beträchtlicher Steilheit bergan. Nur trippelähnliches Gehen ist uns möglich. Die Stille ist vollkommen, hier kann man Ruhe schöpfen, wären wir nicht bei einem Wettlauf.
Der pochende Herzschlag, maximal erhöht, sprengt, besonders durch das Trommeln des tachykaten Rhythmus des Läufers hinter mir, die grünglasige Stille des Hochwaldes. Erst als wir merken, dass die Bäche am Wegesrand uns davonfließen, freuen wir uns wieder, die Anstrengung des Aufstiegs vergessend. Über die untere Schronbachalm führt die gut ausgebaute Almstraße in einem weiten Bogen wieder zurück ins Isartal. Spaziergänger kommen uns entgegen. Wir registrieren an ihrer Ausrüstung, dass sie sich nur die Füße vertreten, nicht zu einer ernsthaften Bergbesteigung ziehen; wir erahnen den nahen Parkplatz, gefüllt mit Nachmittagstouristen. Bergab nehmen wir unseren Trekkinglauf wieder auf, auch um den Zeitverlust des Aufstieges ein wenig zu kompensieren. Wirklich glücklich bin ich, Hans Joachim hat ebenfalls Fersengeld vorwärts gegeben, als ich die Staumauer des Sylvensteins sehe und dahinter dunkelgrün schimmern den See umrahmt von Bergen, in den höheren Lagen liegt noch auf Steilflächen Schnee.
Den steilen Abstieg zur letzten Verpflegungsstelle schaffe ich, weil ich die Strecke verdoppelnd in Serpentinen hinunterlaufe. Nach zwei, drei Bechern vom Sponsorengetränk einer weltbekannten Weißbierbrauerei und ich fühle mich des Aufstieges zum Staudamm fit. Fjordartig breitet sich der See zwischen die Steilabhänge und füllt enge Zulauftäler von mehreren Bergbächen u. a. das Walchental. Auf der Deutschen Alpenstraße (B 2) laufen wir über die meist fotografierte Autobrücke Deutschlands, gerne in Kalendern diverser Mineralölgesellschaften abgebildet, direkt über das im See bei der Aufstauung versunkene Dorf Fall. Auf der Brücke holt mich einer der Dioskuren vom Spreelauf ein, Hardy, der Schwäche zeigt und bei diesem Lauf nicht mit Dietrich Schiemann kongenial unterwegs ist. Beim Abschied wird er mir sagen, wenn er gewusst hätte, dass er bloß vier Minuten im Gesamtklassement hinter mir läge, hätte er sich mehr angestrengt.
Vor einer Dusche bevorzuge ich im Ziel zuerst den besinnlichen Genuss von zwei Weizenbier in der Sonne und die anregende Gegenwart von Steppenhahn, der auch schon bald nach mir ins Ziel kommt. Stephan reicht es. Morgen wird er sich schonen, einer Erkältung wegen, die wahrscheinlich im Anzug sei und die er, um kein Risiko einzugehen, auskurieren müsse.
Besonders hinweisen muss man auf das variationsreiche Abendessen und nicht minder das Frühstückbuffet, das keine Wünsche offen lies. Auf der Hotelterrasse, wir vertreiben einfach die wenigen Gäste aufgrund unserer schieren Überzahl, obwohl wir alles tun, um sie zum Bleiben zu motivieren, stimmt uns Jürgen Schoch in einem excellenten Briefing, wie alle Tage vorher, auf die morgige, die letzte Etappe ein. Mein linker Fuß ist auf Höhe der Knöchel mittig dick angeschwollen. Sigrid Eichner (1005 gelaufene Marathons), die ich um Rat frage, leiht mir eine entzündungshem-mende Salbe und medi-kamentiert mich mit geheimen Tabletten. Morgen werde ich den ganzen Lauf über keine Schmerzen spüren, obwohl der Fuß weiter kritisch aufschwillt.
5. Von Fall bis Scharnitz /Isarquelle – 66 km
Der Weg am frühen Morgen führt am Seeufer entlang, das sich lange nicht als solches erkennen lässt, weil eine weiße Nebelwand die gesamte Wasserfläche und auch jenseitig den ansteigende Wald hinter einen undurchsichtigen Vorhang versteckt. Es ist ein traumhaftes Laufen, wunderliche Geheimnisse birgt die Gegend. Mit Staunen sehe ich auf einmal wie durch ein sich öffnendes Auge aus dem Nebel eine andere Welt hervortritt. Umrisshaft erscheinen die Dinge aus der Gegenstandslosigkeit, durch Licht und Farben erst wieder erschaffen: See und Land und Bergwald, singen ein stilles Lied der Schöpfung, vom imaginären Morgenlicht geweckt.
Der Weg geht direkt auf felsbrockigen Isargrund, wohl nicht möglich in Überschwemmungszeiten, dann würde das gesamte Tal geflutet sein. Wir passen auf, das Ziel zum Greifen nahe, um uns jetzt nicht noch die Füße zu vertreten und durch unglückliche Verletzungen ausscheiden zu müssen. In Vorderriß nachdem wir einige km auf der erfreulich so früh am Tag fast unbefahrenen Bundesstraße gelaufen sind, biegen wir in den Isarwinkel ab, beeindruckend flankiert zu beiden Seiten des Tales mit bis zu 1700 m hohen Bergketten. Im Vorbeilaufen, unsere Liebe und Aufmerksamkeit für die Isar hat sich mit jedem Tag merklich erhöht, können wir von uns einmal abstrahierend beobachten, mit welch wilder ungezügelter Energie, je nach Gefälle und Wasserstand freilich, das reißende Wasser sich seinen Flussleib alle Barrieren zerstörerisch verschlingend in den Untergrund mergelt. Anhalten will ich, um mir das Schauspiel dieser entfesselten Energien genauer einzuprägen, aber weil auch Olaf Schmalfuß aus Nürnberg vor mir nicht langsamer wird, tröste ich mich damit, sollte ich noch lange leben, einmal wiederzukehren um vielleicht einen ganzen Tag lang hier zu meditieren, vorausgesetzt ich wäre des Laufens unfähig oder überdrüssig geworden.
Bis Krün duften die Wälder nach Frühling, Abenteuerlust liegt uns im Blut, unsere Sehnsucht steigt über die Steilflanken und Abbrüche des Gebirgsmassivs an dessen Füßen wir entlang laufen. Wir müssen die Köpfe schon arg in den Nacken strecken, um noch in der schwindelnden Höhe die Gipfel und stürzenden Grate in den Blick zu bekommen. Bis ins Ziel, dass wir gemeinsam uns bei den Händen haltend heute noch durchlaufen werden, und uns kongenial ohne Statements und Strategien verstehend, laufe ich heute mit Olaf Schmalfuß aus Nürnberg, durch einen unvergesslichen Tag, mit Bildern des Lichtes und dem Gefühl Erstentdecker eines Paradieses zu sein.
Aus dem Hochwald kommend sehen wir durch die Weite des Waldes vor uns in der Tiefe noch einige Kilometer entfernt eine rote Siedlung. Das es das Dorf Krün ist, über das wir sonst auch nichts wissen, wissen wir nicht. Beim Eintreffen des dritten Verpflegungspunktes entledige ich mich endlich meiner langen Laufhose, hoch erregt endlich mit Haut und Fleisch, Sonne, Wärme und Wind zu spüren. Marion Braun, eigentlich Wolfgang erwartend, hilft mir, ohne das ich das beschämt abwehre, aus meinen Schuhen und gibt mir wieder vom isotonischen Biergetränk. Mit Olaf zusammen, der auf mich an der Verpflegungsstelle wartet, weil ich mich wegen einer internistischen Unpässlichkeit, die im Unterholz geheim verrichtet werden musste, etwas verspäte, laufe ich durch die Ortschaft Mittenwald, neben Martinsneukirchen im Vogtland das deutsche Zentrum für traditionellen Geigenbau.
Einige Tage vorher bin ich aufgrund einer recht interessanten und kontroversen Berichterstattung im Radio auf das Pfingsttreffen von Wehrmachtsveteranen der Edelweißdivision, die in Mittenwald aufgestellt und stationiert war, aufmerksam geworden. Sie veranstalten auf dem „Hohen Brenten“ eine Gedenkfeier mit Militärgottesdienst für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Kameraden. Seit einigen Jahren erst sind die Kriegsverbrechen der Elitetruppe wissenschaftlich in den Focus geraten und haben den Nimbus ritterlichen Soldatentums in argen Misskredit gebracht. Über die Massaker auf Kephallonia, einer kleinen Insel in der westlichen Ägäis mit mehr als 4000 ermordeten italienischen Soldaten, wusste ich schon seit Jahren durch einen Fernsehbeitrag annähernden Bescheid. Über die Massaker in Griechenland und in Italien allerdings nicht; auch nicht, dass der bayerische Ministerpräsident, selbst in Mittenwald zum Gebirgskrieger bundeswehrausgebildet, Mitglied dieser ehrenwerten Kameradschaft ist.
In Scharnitz werde ich noch die Gelegenheit haben einen 82jährigen Gebirgsjäger von damals über seine Einstellung zu befragen. Nach dem Zieleinlauf treffe ich ihn zufällig im grünen hochgeschlossenen Lodenrock mit erregierten Gamsbart am Jägerhut, mehr schwitzend wie ich. Er erzählt mit reger Kognition, aber körperlich gebrechlich, seine hochalpinen Fronterlebnisse im Kaukasus. Stolzes Soldatentum, das ist es, was seine Erinnerung prägt, kein Unrechtsbewusstsein, obwohl er selbst in kaum verholendem Stolz von seiner Heldenzeit erzählt, vom Schädeleinschlagen im Nahkampf und von Schwerstverwundungen beim Eroberungskampf im kaukasischen Raum, Russe gegen Edelweißjäger. Nein, von Kephallonia und den anderen Dingen wisse er nichts. Es sei niemals vorgekommen, dass die Edelweißjäger als Vergeltung für Partisanenüberfälle makedonische und montenegrinische Dörfer mit allen Bewohnern massakriert hätten. Mit diesem Urteil kann sich mein Gesprächspartner an der Durchgangsstraße von Scharnitz auch auf die Justiz stützen. Wohl wurde gegen 300 Täter staatsanwaltschaftlich ermittelt, aber zu einer Verurteilung ist es in keinen Fall gekommen. Am Ende sind die Aufklärer, wie meist immer, die Störenfriede auf die sich kompensatorisch die Ablehnung des Kollektivs konzentriert, weil Sie ein Klima, das sich ans Verschweigen und Vergessen gewöhnt hat, polarisieren. Ein Lauf durch Bayern, insbesondere durch seinen südlichen Teil ist ohne kritische Notizen, die mehr als nur am Rand Beachtung finden sollten, nicht möglich. Bayern selbst reizt zum Widerspruch.
Hinter Mittenwald führt eine parkähnliche Landschaft auf edlen Wegen nach Scharnitz, die auch Touristen, die uns immer mehr zu einer Wegplage werden, zu achtlosen Ausflügen nützen. Olaf hört nicht auf, die Parkbankbesetzer, oft ältere Paare mittleren oder manchmal sogar höheren Übergewichts, zu grüßen. Er empfängt im seltensten Fall denselben freundlichen Antwortgruß retour. Für uns ist es ein Genuss zu laufen, obwohl wir durch die ungewohnte Hitze reichlich strapaziert sind. Gleichwohl hat mein geschwollener Fuß sich schmerzfrei gezeigt, wenn auch die Schwellung sich noch einmal ausgedehnt hat. Wahrscheinlich ist der Schmerzreizempfang unterdrückt.
Wir erwarten nichts mehr; die Bewegung hat uns unser Bewusstsein für Zeit und Raum geraubt. Zurückgewiesen werden wir erst wieder als wir Scharnitz erreichen, den Verpflegungsplatz direkt gegenüber unserem Hotel neben der Isar, die stark kanalisiert und mit wenig Wasserführung schon die Quelle erhoffen lässt. Im Schatten des Verpflegungsstandes, ein Campingbus, setzen wir uns und ich teile mit Olaf das Erdinger Edelgetränk, auf dessen Rettungswirkung wir nun beide unabhängig voneinander kostend gekommen sind. Nach der ausgedehnten Pause starten wir zum letzten Akt und zum finalen Endspurt, der gleich nach der Überquerung der Bundesstraße am enormen Anstieg ins Hinterauntal floppt. Es kommen flachere Abschnitte, deren Ansteigen ich weniger beschwerlich registriere, jedoch als wir in umgekehrter Richtung zurücklaufen, ebenso als beachtliche Anstiege entdecke.
Gewaltig haben Naturkräfte gearbeitet und das Tal in den Fels geschnitten. Klüfte und Schründe, jähe Abstürze und kantige Grate künden vom jungen Entstehungsdatum dieses Gebirges. Das ganze Tal war bis zu den Gipfelspitzen in fast 2500 m Höhe von einem Gletscher bedeckt, der bis zu den Seen im Vorland seinen Eispanzer ausstreckte. Jetzt schon im Hochlaufen beginnt ein großes Fest, wir freuen uns für alle die mit uns die letzten Tage gelaufen sind und nun schon rücklaufend dem Ziel zustreben. Klar gibt es Läufer, die wir kaum vom Kontakt her kennen, die Gruppe ist diesmal einfach zu groß, aber mit jedem verbinden wir unsere Wünsche auf gutes Ankommen.
Beim letzten Versorgungspunkt trinken wir noch einmal ein Bier. Kola und Wasser ist uns schon seit dem Vormittag verleidet. Die zwei von der Versorgungsstation versprechen bei unserer Rückkehr uns mit Gletscherwasser gekühltem (alkoholfreien) Weizenbier zu erfrischen. Die letzten 3, 5 Kilometer mühen wir uns weiter das Hochtal höher. Der Weg bildet linkerhand den Basissockel für das Massiv der Birkharspitze, die bis in eisige Höhen von 2749 m aufragt, dem höchsten Gipfelpunkt des Karwendel. Stiegen wir in das jenseitige Gebirge auf, über Passwege des Überschalljochs schon nach wenigen Stunden gelangten wir an den Inn hinunter oder könnten vom Kavelarhaus mit der Gondel bis in die Stadt Innsbruck hinunterfahren.
Auch Bernd Seitz kommt uns mit vollen Sinnen und vollen Herzen entgegen, leider ist er am Regentag durch Überschreitung der Laufzeit ausgeschieden. Heute wird er sich noch von uns verabschieden, um von Scharnitz aus mit dem Nachtzug nach Eisenach zu fahren, wo er morgen in der Früh um 6:00 Uhr auf dem Marktplatz zum Rennsteiglauf (74 km ) über den Kamm des Thüringer Wald starten wird.
Endlich an der Quelle, plötzlich ist sie da, unspektakulär. Es ist geschafft. Erst nach und nach folgt auch das Bewusstsein dem Ereignis und zirkelt aus der Wahrnehmung des Zeitflusses eben diesen Augenblick als Unwiederbringbaren. Im klaren Bach wasche ich bis zur endgültigen Kühlung Wasser ins Gesicht, schließe die Augen und vergesse für eine kurze Zeitspanne wirklich alle kosmologischen und existentiellen Koordinaten. Im Wasser der Quelle, in der Erfrischung, im Ziel erreicht man die Höhe der Empfindung vom Hier und Jetzt, unzeitiges Sein, das wieder in den Fluss der Zeit zurück muss und wir mit unserer gesamten Ich-Empfindung. Alles Vergehen schmerzt uns. Wären wir nicht vergänglich, wir wären niemals Quelle gewesen und könnten je Mündung sein.
Zurücklaufend bedauern wir nun die in der Hitze des Nachmittags Aufsteigenden. Sie tun dies mit sich sicherlich nicht. Brigitta Biermanski tänzelt uns mit Hosianahrufen entgegen, gänzlich in hymnische Verzückung geraten die Schönheit des Gebirges und die Natur im Allgemeinen preisend.
Auch Wilhelm Mütze, Holländischer Laufgeher, ist heute vor uns an der Verpflegung und kann es nicht erwarten, obwohl er dies die letzten Tage sophistisch geübt hat, ins Ziel zu kommen. Aus ganz anderem Material sind Olaf und ich heute. Also noch ein Weizen, aber das letzte alkoholfreie für heute, trinken wir auf Campingstühle sitzend nach unserer Rückkehr von der Quelle. Wir haben keine Eile mehr. Die Natur, Sonne, Wind, Hitze, die bizarren Anstiege, Gipfelgrate, der Fluss bei dessen Geburt wir gerade waren, erfüllt uns in diesen Augenblick mit einer sehr selten empfunden Ergriffenheit. Der Rücklauf, obwohl anstrengend, dürfte in seiner Herrlichkeit nie enden. Unerwarteter als angenommen stehen wir vor dem Zielanlauf. Wir halten uns die Hände und sind zutiefst gerührt, so gerührt, das wir schon wieder rationalisieren, um nicht weinen zu müssen.
Quellen:
Rohrbach, Carmen: Am grünen Fluss. Isar – eine Wanderung von der Quelle bis zur Mündung, Frederking & Thaler, 2005, 3. Auflage.
www.geodienst.de/geologie der alpen
www.br-online.de/bayern-heute/thema/kriegsende/todesmaersche-erinnern.xml
© Gottfried Oel , 08. Juli 2005