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Alle zeigen - Bericht von Norbert Kathan zum Ultra-Trail International du Tour du Mont Blanc.:
Norbert Kathan , 18.09.2005Ultra-Trail Tour
ULTRA-TRAIL
TOUR DU MONT-BLANC
26. – 28. 8. 2005
26. 8. 2005, kurz vor 19:00: Ich stehe am Start des wohl verrücktesten Berglaufes Europas, dem North Face Ultra-Trail Tour du Mont Blanc, laut Road-Book 158,1 km lang, mit 8.639 Höhen-metern im Auf- und Abstieg. Mein Gott bin ich aufgeregt, mir zittern die Knie, in meinem Leben war ich noch nie so nervös. Ich bin froh, dass es endlich losgeht. 2.000 Verrückte am Start, tau-sende Zuschauer, darunter auch meine Frau Gabi, der Start perfekt inszeniert, mystische Musik von Vangelis, die ganze Stadt bebt, bei herrlichem Wetter in der Abendsonne, als Kulisse der Mont Blanc und die Aiguilles von Chamonix; ich flippe fast aus.
Begonnen hat alles vor ca. 1 ½ Jahren. Zufällig stoße ich auf die Internet-Seite des Ultra-Trail Tour du Mont Blanc. Die ultimative Herausforderung – ein Lauf um das gesamte Mont-Blanc-Massiv über 155 km und 8.500 Höhenmeter – so die Ausschreibung. Das wäre doch was für mich. 25 Jahre nachdem ich mit meinem Bergkollegen Manfred Maurer die komplette Längs-überschreitung des Mont Blancs von der Aiguille du Midi, über den Mont Blanc du Tacul, den Mont Maudit bis zum Mont Blanc und dann über den Dome de Gouter schaffte, nun den gesam-ten Bergstock zu umlaufen und das in einem durch – irgendwie unvorstellbar, eigentlich fast unmöglich, aber offensichtlich doch machbar – denn bei der 1. Austragung im Jahre 2003 gab es, bei sehr schlechten Bedingungen, immerhin ca. 160 Finisher. Zur Teilnahme am Lauf 2004 fehl-te mir einfach die Courage. Aber ich hatte seitdem den Lauf auf „meiner Liste“, der Gedanke daran teilzunehmen ließ mich nicht mehr los.
Im Winter 2004/2005 trainierte ich – für meine Begriffe – auf sehr hohem Niveau. Über Monate keine Woche unter 100 km – das war einfach zuviel. Der Linz-Marathon als ersten Test im April 2005, bei dem ich mir eine Zeit von unter 2:55 vornahm, ging schief – 3:09 mit argen Muskel-problemen. Schon 2 Monate vorher, im Februar, gab ich meine Nennung zum Ultra-Trail Tour du Mont Blanc ab. Im April 2005 war der Lauf mit 2.000 Meldungen bereits ausgebucht.
Aufgrund meines offensichtlichen Übertrainings reduzierte ich die Trainingsumfänge um 25 %. Und das war gut so. Ab Mai lief ich häufig in die Berge. Erfolge konnte ich beim Älpele-Berglauf, dem Gamperney-Berglauf und dem Muttersberglauf in meiner näheren Umgebung verbuchen. Die Trainingsläufe wurden immer länger, mit immer größeren Höhenunterschieden. Der Silbertal-Marathon mit seinen 1.300 Höhenmetern lief super. Die Zeit von 3:38:30 war er-mutigend. Noch 2 weitere intensive 40 km-Bergläufe in meiner näheren Umgebung rundeten das Trainingsprogramm, das schlussendlich ca. 30.000 Höhenmeter umfasste, ab. Ich war gut vorbe-reitet – aber ob das wohl reichen würde?
Die letzten Tage vor dem Rennen war ich nur noch aufgeregt. Am Anreisetag war mir schon beim Gedanken an Essen übel, trotzdem zwang ich die notwendigen Kohlehydrate in meinen Körper hinein. Die Anreise über die Schweiz, den Col de la Forclaz, Trient, Vallorcine nach Chamonix, die letzten ca. 30 km des Laufes mit noch ca. 1.200 Höhenmeter, verstärkten meine Zweifel: Auf was habe ich mich da eingelassen? Habe ich die Anforderungen an mich selbst nicht massiv überzogen? Ich wäre am liebsten umgekehrt – ich hatte einfach „nackte Angst“ vor diesem „Abenteuer“. Allerdings, ich konnte nicht mehr zurück, ich hatte mir das vorgenommen. Eine große Zahl von Familienangehörigen, Freunden und Fans zählten auf mich und unterstütz-ten mich „geistig“ und „verbal“, dieses mir selbst gesteckte Ziel zu erreichen. Ich konnte doch jetzt nicht kneifen.
Startunterlagen holen, Kontrolle der Ausrüstung, alles funktionierte ohne Probleme, irgendwie schon Routine, aber doch immer wieder aufwühlend. Gabi versuchte mich zu beruhigen. Es ging nicht, ich bebte bei den Gedanken an den Lauf – und die waren nicht mehr aus meinem Kopf zu bringen. Die Details des Laufes hatte ich mir eingeprägt, die Distanz und die zu bewältigenden Höhenmeter als Ganzes sind nicht in den Schädel zu bringen. Das Einzige was für mich sprach: Ich war gut vorbereitet, war gesund, die Vorbereitung war o. k., ich konnte eine sehr große Er-fahrung in hochalpinen und sehr langen Bergtouren vorweisen und ich hatte bei sehr schwierigen Touren und Läufen immer gerade dann „Stehvermögen“ bewiesen, wenn es wirklich hart wurde. Trotz aller Unsicherheiten war ich glücklich, dass ich nunmehr am Start stand und stolz, dass ich dabei sein durfte.
Noch 30 Sekunden, der Sprecher schreit irgendwas auf französisch, ich schlage noch schnell ein Kreuz, bete zum Himmel, dass es mir gut gehe und ich verletzungsfrei und gesund das Ziel er-reichen möge und dann geht´s los.
Zuerst 9 km praktisch flach – einlaufen. Mein „Nierentäschchen“ stört mich, es wippt dauernd auf und ab, ich kann es nicht fixieren. Das regt mich ziemlich auf, im Laufe des Rennes sollte dies unbedeutend werden. Erster Aufstieg zum Col de Voza (1.653 m), es geht mir nicht gut, ein flaues Gefühl im Magen. Bei der 1. Verpflegungsstelle am Pass esse ich nur eine Banane und decke meinen Kalorienbedarf mit den eigenen, mitgeführten „Power Gels“.
Ich lerne Erwin, einen sympathischen Schweizer aus St. Gallen kennen. Wir laufen die ganze Nacht miteinander: Zuerst herrlicher Sonnenuntergang am Col de Voza (13 km), Abstieg und der lange nächtliche Anstieg über 1.600 Höhenmeter zum Croix du Bonhomme (38 km, 2.479 m), Abstieg nach Les Chapieux (44 km) und wieder Aufstieg zum Col de la Seigne (54 km) auf 2.516 m mit mehreren „Hoch´s“ und „Tief´s“ bei mir.
Erwin fühlt sich super. Ich habe einfach Probleme mit der Ernährung – trotz bestem Nahrungs-angebot an den Verpflegungsstellen. Ich leide an Appetitlosigkeit, bei so einem Rennen „töd-lich“. Ernährung unter Zwang, aber absolut notwendig. Ein mitternächtliches Telefongespräch mit Gabi hilft mir zwar psychisch, löst aber nicht mein Essens-Problem.
Über den Arète du Mont-Favre (63 km, 2.435 m) geht es dann steil bergab nach Courmayeur (72 km) am Südende des Mont Blancs Tunnels – von 2.400 m auf knapp 1.200 m, mit toller Sicht auf die Südflanke des Mont Blancs. Bei der letzten Verpflegungsstelle vor Courmayeur am Col Chécrouit (67 km) verabschiede ich mich von Erwin, der zum Unterschied von mir, sich blen-dend fühlt und mir einfach etwas zu schnell ist. Wir wünschen uns viel Glück und hoffen, dass wir beide das Ziel erreichen würden. Zu diesem Zeitpunkt war ich, was mich betraf, etwas skep-tisch, da ich an meinem linken Fuß eine Blase bemerkte – etwas was ich in Laufschuhen noch nie hatte – vermutlich aufgrund des sehr langen und steilen Bergablaufens, was ich in dem Aus-mass nicht gewöhnt war.
Um 8:30, nach 13 ½ Stunden, nach 72 km und über 4.000 Höhenmeter laufe ich in Courmayeur ein – phantastische Stimmung wie bei einer Tour de France–Bergetappe – viele enthusiastische Zuschauer an der Strecke, die uns anfeuern und Mut machen, uns auf die Schulter klopfen, das baut mich voll auf.
Jetzt aufhören – wie ca. 450 andere Konkurrenten – ist für mich kein Thema, nicht einmal eine Überlegung wert. Bis jetzt waren die Bedingungen sehr gut, schönes Wetter, trocken, nicht zu warm, in der Nacht aber auch nicht zu kalt, eigentlich ideal. Trotz meiner Probleme, diese Chan-ce bei diesen Top-Bedingungen beim wohl härtesten Berglauf Europas zu finishen, kann ich mir nicht entgehen lassen. Die Zwischenzeit in Courmayeur ist gut, trotz aller Probleme, mit der Soll-Zeit von 45 Stunden würde ich, unter normalen Umständen, keine Probleme bekommen. Ich liege deutlich unter den Soll-Zwischenzeiten.
Im Sportzentrum von Courmayeur nehme ich meinen Depot-Rucksack in Empfang, dusche, zie-he mich frisch an, kümmere mich um meine Beinchen, Muskeln und Blasen (ein Sanitäter be-handelt das Blasen-Problem am linken Fuss perfekt und gibt mir Mut). Dann esse ich eine Porti-on Lasagne, trinke viel und beantworte alle SMS und Telefonate meiner „Fans“, die bis zu die-sem Zeitpunkt mich erreichten. Nach 1 Stunde mache ich mich total motiviert wieder auf den Weg – es geht mir schlagartig besser, ich fühle mich endlich wohl, bin nun offensichtlich in die Situation hineingewachsen.
Und es geht gleich steil bergauf über das Rif. Bertone (77 km, 1.989 m), weiter auf und ab zum Rif. Bonatti (84 km, 2.020 m), dann abwärts nach Arnuva (89 km, 1.769 m) und dann wieder steil bergauf zum Grand Col Ferret, dem Kulminationspunkt des ganzen Rennens auf 2.537 m (bei 93 km).
Die Aussicht auf die gegenüberliegenden Gipfel des Rochefort-Grates und den Grandes Jorasses, die ich 1979 erstiegen hatte, wird leider immer eingeschränkter, das Wetter wird zusehends schlechter, genau am Pass beginnt es zu regnen. Die umliegenden Gipfel beginnen einzunebeln. Nur eine kurze Verpflegung am Pass, ich ziehe was langärmeliges und den Regenschutz an, der Abstieg ist sehr rutschig und mühsam. An alle Streckenabschnitte über La Peulaz, La Fouly und Praz de Fort, 1.500 Höhenmeter bergab, bis hinab nach Issert (112 km) kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Aus dem Gesamtklassement geht hervor, dass allein im Abschnitt zwischen Courmayeur und Issert fast 400 Teilnehmer das Rennen beenden.
Der Aufstieg nach Champex (119 km), obwohl nur knapp 500 Höhenmeter, ist dann wieder eine eher „harte Partie“, habe ich doch bereits ca. 6.500 Höhenmeter in den Beinen und bin bereits über 25 Stunden unterwegs (seit Courmayeur eigentlich immer alleine).
Dort dient ein Luftschutzbunker als 2. großer Verpflegungsstützpunkt (nach Courmayeur). Ich erreiche Champex-d´en-bas noch in der Dämmerung gegen 20:30, ziehe mich um – lange Leg-gins, langärmeliges Leibchen und Regenschutz, da es regnet und immer kälter wird und noch 2 hohe Berge bevorstehen – esse einen Teller Spaghetti, trinke ein Red-Bull um meine Lebensgeis-ter wach zu halten und gehe dann, nach einer knappen Stunde, mutterseelenallein, bei strömen-dem Regen und stockdunkler Nacht hinaus auf die Strecke. Eigentlich Bedingungen, das Rennen abzubrechen, wie über 100 Teilnehmer das hier tun – verständlich, denn ab jetzt wird es wirklich ungemütlich. Ich fühle mich in dieser Phase des Rennens sehr gut – vielleicht am Besten wäh-rend des gesamten Wettkampfes. Ich akzeptiere die schlechten Bedingungen und stelle mich rasch darauf ein. Meine diesbezüglichen Erfahrungen aus vielen Jahren Bergsteigerei kommen mir hier zugute. Ich marschiere alleine, suche den Weg – die Streckenmarkierungen mit Schlei-fen und Leuchtstiften sind gut erkenntlich. Ab diesem Zeitpunkt bin ich mir ziemlich sicher, das Ziel in Chamonix zu erreichen; die Zeit ist nebensächlich. An den steilen Streckenabschnitten und Querungen bin ich sehr vorsichtig; teilweise nur noch eine Rutschpartie. Das Risiko einer Verletzung ist sehr groß, ein Sturz und das Rennen kann schlagartig zu Ende sein. Dies versuche ich unter allen Umständen zu vermeiden.
Der Aufstieg auf den Bovine (126 km, 1.987 m) ist „grauenhaft“: Sehr steil, ein felsiger, rauer Steig und vom Dauerregen total rutschig. Irgendwann so gegen 23:00 ruft mich meine Mutter an und wünscht mir viel Glück für die Nacht, bevor sie zu Bett geht. Ich glaube, meine Live-Schilderungen über den Aufstieg auf den Bovine grausten sie total, sie klang aufgeregt und doch etwas beunruhigt. Ich verspreche ihr, dass ich bis zum Morgen im Ziel bin.
Mit 3 Franzosen erreiche ich dann gemeinsam die Verpflegungsstelle am Bovine. Der Abstieg ist eine furchtbare Rutschpartie, durch tiefen Schlamm hinunter zum Col de la Forclaz und weiter nach Trient (132 km). Es regnet stark. Die Verpflegungsstelle in Trient ist in einem Festzelt un-tergebracht. Wir werden mit großem Hallo und Musik empfangen (1:00 nachts). Ich bin müde und dränge meine französischen Laufkollegen zum Weiterlaufen. Auch die Les Tseppes, mit über 2.000 m Höhe, ist noch eine steile Partie, jedoch die Aufstiege sind nicht mein Problem. Die steilen Abstiege, teilweise nur noch Morast, nur noch rutschig, die gehen brutal in die Ober-schenkel, das tut wirklich weh.
Vallorcine wird nach 142 km erreicht. Es hört auf zu regnen. Der Col des Montets mit 200 Hö-henmeter Anstieg merke ich kaum mehr und dann kommt die letzte Verpflegungsstelle in Argen-tière bei 149 km. Es ist bereits wieder hell. Von da an denke ich an den Zieleinlauf. Ich telefonie-re mit Gabi und kündige meinen Zieleinlauf zwischen 8 und 9 Uhr an. Von Les Tines bei 153 km geht es dann nochmals 200 Höhenmeter rechts des Flusses den Hang hinauf. Ein schöner Wan-derweg, aber nach 8.500 Höhenmeter in den Beinen eine wirklich mühsame Sache – doch ich akzeptiere zu diesem Zeitpunkt alles. Ich gehe und laufe und wäre auch noch weiter bergauf und bergab gewandert, hätte man dies von mir verlangt. Irgendwann geht es dann plötzlich steil bergab, ein „Offizieller“ kommt mir entgegen und erklärt mir, ich sei auf dem letzten Kilometer. Trotz meines schmerzenden „Gestells“ beginne ich zu laufen und erreiche bald die ersten Häuser am Ortsrand von Chamonix. Nun ist es wirklich nicht mehr weit bis ins Ziel. Das Wetter hatte sich gebessert und immer mehr Frühaufsteher säumen die Strecke. Dann kommt die Fussgänger-zone, überraschend viele Leute applaudieren mir zu. Ich laufe vollkommen alleine auf der langen Geraden zum Hauptplatz, in der Kurve steht Gabi und ruft mir zu. Ich bleibe stehen, eine kurze Umarmung, dann laufe ich die letzten 100 m bis ins Ziel, wo ich beide Arme in die Höhe reiße und nach 37 Stunden und 41 Minuten die Ziellinie überquere.
Ein Vertreter der Organisation empfängt mich, gratuliert mir und übergibt mir das Finisher-Geschenk – ein Rucksack des U. T. M. B. Ich bin glücklich, müde und genieße den Triumph des Finishers in vollen Zügen. Ich habe das für mich scheinbar Unmögliche geschafft und habe mir einen wirklichen Traum – einer von vielen – erfüllt.
An allen Ecken und Enden tut mir irgendwas weh. Ich fühle mich im Ziel aber insgesamt überra-schend gut. Meine physischen und psychischen Grenzen habe ich zwar angetastet aber weder erreicht noch überschritten. Ich hatte einige Probleme und auch Zweifel während des Rennens, dennoch habe ich nie wirklich eine Aufgabe in Erwägung gezogen (außer verletzungsbedingt oder aufgrund meiner Blasen).
Nachdem ich im Ziel ein Bierchen getrunken hatte, fiel mir das Aufstehen schon etwas schwer. Auch merkte ich, dass ich 2 Nächte nicht geschlafen hatte – ich „fror wie ein Schlosshund“. Ich war deshalb froh, dass unser Hotel nur ca. 300 m weit vom Start/Ziel entfernt war. Nach fast 48 Stunden konnte ich endlich wieder schlafen.
© Norbert Kathan, 18.09.2005
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