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Mein erstes Power-Gel - Eine Weihnachtsgeschichte

von Verena Liebers

http://www.steppenhahn.de/ll/power.html 12.2004

Das Buch ist da :-)

03.2008: Verena konnte sich jetzt endlich durchringen, den Pulsmesser und andere Geschichten in Buchform zu veröffentlichen :-)
Jetzt bei Copress erschienen, 112 Seiten stark und bei Amazon zu bestellen:
Läufer sind auch nur Menschen.
Der Pulsmesser und andere Anekdoten


Verena Liebers, Dezember 2004

"Wenn Du einen Marathon laufen kannst, dann können wir auch mal 24 Stunden laufen." Dieser Satz ist vom Steppenhahn-Stephan und den sagte er zu mir nachdem ich das erste Mal die 42,195 km um den Baldeney-See geschafft hatte. Das scheint vielleicht nicht für jeden logisch, zumal Stephan zu diesem Zeitpunkt noch nie mehr als 30 km am Stück gelaufen war, aber darauf kam es auch gar nicht an. Worauf es ankam, das war, dass wir ein gemeinsames Ziel hatten, einen Grund zusammen zu trainieren und miteinander zu reden.

Das ist jetzt sechs Jahre her und in dieser Zeit hat sich einiges verändert. Gemeinsame Ziele haben wir eher selten, wir trainieren eigentlich kaum zusammen, aber: Wir reden noch miteinander. Ich erzähle wahlweise von meiner letzten Lesung oder meinem neuesten Buch, Stephan von seinen Begegnungen mit Menschen und manchmal reden wir auch über das Laufen. So kamen wir neulich auch auf Power-Gel zu sprechen.

"Also, wenn ich eine Strecke nur noch mit Power-Gel schaffe, dann verzichte ich lieber darauf." Das war Steppenhahns Fazit nach Phasen mit Bananen, Müslistangen, Pizza mit Pommes frites und eben Power-Gel. Er hat wirklich viel probiert. Aber soweit ich ihn verstanden habe, läuft er weil es ihm Spaß macht. Deswegen trinkt er auch ein Bier, raucht eine Zigarette oder tanzt mit dem Publikum, statt mit effektivem Zeit-Management ins Ziel zu rauschen. Einen Pulsmesser hat er zwar, aber das ist im Grunde wohl nur damit er sich selbst ein bisschen besser kennen lernt und nicht etwa, um schneller zu laufen. Er findet es außerdem prima, sich im vorüber joggen ein Traumhaus auszusuchen oder in eine Frau zu verlieben. Der Vorteil ist, dass er schon wieder vorbei ist, ehe es ernst wird. Da Power-Gel weder die Strecken noch die Frauen verbessert, ist er also mit dem Thema durch.

Bei mir ist das alles ein bisschen anders gelagert. Ich laufe nicht immer, weil es Spaß macht sondern manchmal auch bloß, weil ich nicht still sitzen kann oder irgendwohin will. Am liebsten gehe ich im Grunde wandern oder ich fahre Fahrrad. Das hat den entscheidenden Vorteil, dass ich einen großen Rucksack mitnehmen kann in dem alles drin ist. Zwar keine Männer zum Verlieben oder Traumhäuser, aber immerhin eine Kamera, warme Sachen und eben Proviant. In dieser Hinsicht bin ich nämlich ein echter Genießer, obwohl mir das nicht jeder glaubt. Am liebsten esse ich trockenes Brot und Äpfel, dazu dann heißer Pfefferminztee und ein Stück Käse, dann kann ich den ganzen Tag unterwegs sein und bin zufrieden. Auf Marathondistanzen esse ich gar nichts, einfach weil mir das zu hektisch ist und es keine trockenen Brötchen gibt. Die Ernährung auf Langstreckenläufen ist dann so eine Sache. Auf dem Rennsteig gab es Haferflockensuppe, das ist sogar noch besser als Brot, aber auch eine Ausnahme. Meinen Widerwillen gegen Bananen konnte ich überhaupt nur überwinden, weil Stephan mir erklärte, ich müsse das mental angehen. Mental bin ich gut, stelle mir einfach vor, es ist Bananenbrot von norwegischen Trollen extra für mich gebacken. Dann esse ich die Palmenfrüchte einfach den Trollen zu liebe.

Aber diese spezielle Läufernahrung, da wird es dann schwierig. Powerbar zum Beispiel. Was soll man sich da noch vorstellen? Es ist ja ohnehin alles drin. Jedes Vitamin und Proteine und Kohlehydrate. Nur das Wasser haben sie vergessen, haben die Körner nach dem Prinzip dichteste Kugelpackung aneinander gereiht und etwaige Zwischenräume mit Zucker gefüllt. So etwas kann ich nur essen, wenn ich zu jedem Riegel zwei Liter zu trinken bekomme. Das klappt beim Laufen von den Mengenverhältnissen her nie, so dass ich Powerbars bisher nur an gemütlichen Nachmittagen gegessen habe, die ich mit einem guten Buch auf der Couch verbracht habe. Tja, und Power-Gel habe ich noch gar nicht probiert. Aber dann kam Weihnachten 2004.

Gerade nachdem Stephan gesagt hatte, dass Power-Gel für ihn überflüssig ist, kriegte ich das von einem anderen Freund unter den Weihnachtsbaum gelegt. Tropic-Fruit und Erdbeer-Banane. Diese riesige Fruchtauswahl in zwei kleinen Päckchen, die in meine Hosentasche passen. Das ist schon erstaunlich. Ich fand das auch wirklich ein nettes Geschenk, weil es eindeutig etwas war, was ich mir selbst nie gekauft hätte. Nun war ich also zum ersten Mal im Leben ein Power-Gel-Besitzer. Erst dachte ich, dass ich es weiter verschenke, aber Stephan kam nicht in Frage und denen die power-gel-technisch gesehen in Frage kamen, wollte ich nichts schenken. Außerdem war dann doch auch der Gedanke da, dass ich diese Substanz nun mal testen könnte. Eine kritische Meinung kann man schließlich nur über etwas haben, was man kennt. Ansonsten ist es ein Vorurteil. Ich arbeite als Wissenschaftlerin und Journalistin, also hatte ich mich schnell für den Meinungstest entschieden. Aber in welcher Form? Das Gel beim Laufen zu probieren schied vollkommen aus. Schließlich war ich mir über die Konsequenzen absolut unklar. Möglicherweise würde sich mein Magen vorurteilsbeladen als Testverweigerer präsentieren oder Stephan würde mich sehen und zum Lachen bringen und damit den ganzen Versuchsaufbau gefährden. So ging das also nicht. Statt dessen entschied ich mich für einen Abend an dem ich mit einem Freund verabredet war. Der Freund spielt dabei keine Rolle, wesentlich ist nur, dass ich zum Treffpunkt 20 km über Hügel hin radeln musste und dann in der Nacht wieder zurück. Nichts ernstes also, weder mit dem Freund - sonst wäre ich schließlich nachts nicht zurück gefahren - noch mit der Tour, aber doch auch keine reine Spazierfahrt. Immerhin lag ein langer Arbeitstag hinter mir und es hatte geschneit. Ideale Bedingungen also für das Power-Gel, denn das schmeckt laut Packungsaufschrift am Besten gekühlt. Es war schon fast Mitternacht als ich mich auf den Rückweg machte, der Schnee hatte von einer Eisschicht Begleitung bekommen und einen wankenden Moment lang überlegte ich, nur zur nächsten S-Bahnstation zu radeln. Aber dann fiel mir mein Test wieder ein.

Ich hielt an einer Straßenlaterne, fingerte den Alubeutel aus meiner Fahrradtasche und versuchte die Beschriftung zu entziffern. Aber es ließ sich einfach nicht erkennen, ob ich tropische Früchte oder Erdbeerbananen in der Hand hatte. Ein Geruchstest brachte keinerlei Ergebnis, befühlen erinnerte mich an gestorbene Nacktschnecken oder Hering in Gelee. Mein Appetit war nicht gerade großartig. Im Grunde sind 20 km auch nicht wirklich weit zu radeln und wenn ich mit dem Freund Bier statt Wasser getrunken hätte, wäre mein Kalorienvorrat vollkommen ausreichend gewesen. Aber Bier mag ich noch weniger als Hering in Gelee. Die Atmosphäre passte auch durchaus zu einem Power-Gel: Sanfter Schneefall, einsame Straßen und wenn ich sowohl die S-Bahn als auch die Nähe des Freundes mental ausblendete, glich die Situation nahezu einem Überlebenstraining. Für den Fall wirklich gefährlicher Power-Gel-Auswirkungen konnte ich ja dann gegebenenfalls den Freund oder den Bahnhof wieder einblenden. Ich war also entschlossen und riss den kleinen Alubeutel mit meinen dicken Handschuhen und einem energischen Griff auf. Dann erst wurde mir das volle Ausmaß der Gel-Ernährung bewusst: Man hat nun ein kleines Loch in der Metalltüte, noch immer ist fast nichts zu riechen und schon gar nichts zu sehen. Nur dieses Gefühl von Nacktschnecken in der Hand. Im Grunde hätte ich jetzt gerne einen Teller gehabt, hätte dort das Gel ausgebreitet und es mir erst einmal betrachtet. Sind tropische Früchte orange? Und Erdbeerbananen rosa oder gelb? Dann hätte ich mir schließlich immer noch überlegen können, ob ich diese Paste essen will. Aber ich hatte keinen Teller, der Beutel war offen und schließlich kannte ich aus zahlreichen Beobachtungen wie ein Power-Gel standesgemäß verschluckt wird: Man zuzelt das Alu aus wie die bayerischen Weißwürste. Ich holte also tief Luft, setzte an und saugte die 111 Kilokalorien mit sämtlichen Mineralien und Folsäuren in mich hinein. Das Ganze dauert ungefähr 0,1 Minute und schmeckte unendlich süß. Weinbergschnecken in Zuckergelee. Die erste Wirkung war ein beschleunigter Herzschlag. Etwas in den Mund zu stecken, ohne es vorher zu sehen ist das eine, aber dann auch noch die gesamten Zutaten der Ernährungspyramide zu schlucken, ohne mehr als einen faden süßen Geschmack zu erleben, das ist schon schwierig. Wenn die sich jetzt in der Zusammensetzung geirrt haben, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht war der Inhalt für einen sechsbeinigen Tiger berechnet, für ein temperaturresistentes Sumatraschwein oder eigentlich überhaupt nur für Menschen aus der Drogenszene?! Einen Moment schwankte ich wie ein Doping-geschädigter Hirtenhund. Dann fiel mir auf, dass Vollmond war. Darauf reagiere ich auch oft etwas komisch. Aber dann atmete ich erst einmal tief durch und erinnerte mich an Steppenhahn-Stephans Bananentipp: "Du musst dich einfach von der Vorstellung lösen, dass die dir nicht bekommen."

Ich konzentrierte mich also auf die Vorstellung wie das Gel in meine Adern schoss und mein Blut durch die Arterien jagte. An jeder Muskelfaser saß eine kleine Nacktschnecke und fütterte sie mit Erdbeeren und Bananen. Dann stieg ich aufs Fahrrad und fuhr los. Wenigstens die 10 km bis zur Straßenbahn wollte ich jetzt radeln, dann konnte ich mich für die restliche Wegstrecke noch einmal neu entscheiden.

Meine nächste Erinnerung setzt dann aber erst wieder vor meiner Haustür ein. Irgendwie bin ich die 20 km in einem Rutsch durch gefahren. Möglicherweise hat das Gel meine Muskeln gebläht und inmitten meiner Popeye-Figur träumte das Gehirn in watteweichen Geleebergen von südlichen Palmen. Oder das Gel löscht zielgerichtet alle Hirnregionen mit negativen Erinnerungen. Im Grunde weiß ich es nicht. Das Ganze ist irgendwie wie ein Orgasmus ohne Sex. Obwohl das Wichtigste angeblich da ist, vermisst man trotzdem etwas. Ich jedenfalls. Das Kauen, Lecken, Lutschen, Zeit haben und einfach genießen. Die zusätzliche Wirkung vom Vollmond kann ich dabei nicht abschätzen.

Aber ich habe jetzt keine Vorurteile mehr sondern eine Meinung: Stephan hat Recht. Was will ich mit einer Strecke, die ich nur mit Power-Gel bewältige? Das nächste Mal übernachte ich bei meinem Freund und gehe am Morgen zum Bäcker.

P.S. Ich habe noch ein Power-Gel zu verschenken.

VIGLi, 30.12.2004


Das Buch ist da :-)

03.2008: Verena konnte sich jetzt endlich durchringen, den Pulsmesser und andere Geschichten in Buchform zu veröffentlichen :-)
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23651 Zugriffe seit dem 31.12.2004, © Stephan Isringhausen

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