Im Grunde fing alles mit dem Hamster an.
Der Hamster ist ein Zweibeiner und heißt eigentlich Karl-Heinz.
Das finde ich aber nicht so hübsch.
Er ist Läufer, genau wie ich und noch so einige Menschen dieser Welt.
Läufer sind Leute, die ihre Beine noch benutzen.
Nicht-Läufer fragen dann häufig, warum man so etwas tut.
Komischerweise hat mich aber noch nie jemand gefragt, wieso ich die Augen zum Sehen verwende.
Der Hamster weiß jedenfalls immer wer wann und wo läuft.
Das ist eigentlich ständig irgendwo irgendwer.
Überall kann man nicht dabei sein.
Aber 131km auf dem Emscher-Park-Weg, also quasi vor meiner Haustür, da wollte ich nicht fehlen.
Stephan auch nicht.
Darum kamen wir zu zweit aus Bochum.
Dann noch 25 Leute von woanders.
Im Wesentlichen waren wir einander unbekannt.
Vorstellungskraft (Toleranz I)
Damit wir uns nicht mit anderen Läufern verwechselten, bekamen wir gleich als erstes alle ein Lauftourhemd.
27mal dunkelblau mit weißer Schrift.
Nur die Größe variierte.
Allerdings nur wenig, denn Läufer sind in gewissem Maße standardisiert.
Schlank und gesund.
Dabei ist die Definition von gesund bzw gesunder Lebensweise erstaunlich variabel.
Schokolade und Gummibärchen werden in der Regel kommentarlos toleriert.
Vielleicht weil man im Idealfall nicht auf dem Zahnfleisch läuft und Karies also nebensächlich ist.
Bei Fleisch und Eiern scheiden sich dann schon die Geister.
Wenn etwa ein Eier-Esser, nennen wir ihn Norbert:-), mit fünf Anti-Eier-Vertretern am Frühstückstisch sitzt, kann das für ihn mitunter anstrengend werden.
Die vielgerühmte Toleranz reicht eben nur bis zum Rand der eigenen Vorstellungskraft.
Das ist mitunter nicht weit.
Jedenfalls essen Läufer unheimlich schnell.
Wahrscheinlich damit es niemandem so genau auffällt, was sie essen.
In jedem Fall müssen sie nämlich damit rechnen, das jedes Lebensmittel mit allen seinen unangenehmen Nebenwirkungen analysiert wird.
Milch birgt die Gefahr der Butterbildung durch die Schüttelbewegung des Laufens.
Eier liegen als Steine im Magen, vom Cholesterin ganz zu schweigen.
Weißbrot fehlen die Vitamine, Marmelade erhöht den Blutzuckerspiegel drastisch.
Undsoweiter.
In jedem Fall sollte man sich auf seine Lieblingsspeisen beschränken, denn das Wiederkäuen ist während des Laufschüttelns durchaus gewöhnlich.
So hat man einfach mehr von den Kalorien.
Toleranz II
Die Sache mit der Toleranz ist aber noch weiter interessant.
Die Emscher-Park-Läufer gehören da nämlich zu einer besonderen Szene.
Der Ultra-Laufszene.
Das sind die Lang- und Langsam-Läufer, die gemeinhin als komplett verrückt gelten.
Deswegen appellieren sie stets ganz besonders an die Toleranz.
Jeder darf doch leben wie er möchte! Wenn dann aber zwischen den Ultras jemand rauchen möchte, ist der Blickwinkel offensichtlich ein anderer.
Als Stephan jedenfalls am ersten Morgen seine obligatorische Morgenzigarette anzündete, grölte ein ganzer Chor "Buh".
Am lautesten die, denen der Schmacht noch am deutlichsten von den Lippen tropfte.
Das klärte sich dann aber erst später, nachdem das Bier als wesentlicher Kohlehydratlieferant akzeptiert worden war:-).
PublicRelation
Vorher hatte die Gruppe zunächst verschiedene Aufgaben zu bewältigen.
Zum Beispiel im strömenden Regen in eine Filmkamera und ein paar Fotoapparate zu lächeln und zu erklären, wieso man nun diese legendäre Route an der Emscher lief.
Weil der Hamster es vorgeschlagen hat eben.
Aber fürs Mikrofon sagte Sabine etwas, was sich besser verkaufte: "Ich muß einfach immer laufen - wie ein Hund."
Orientierung
Die nächste Aufgabe hieß dann Orientierung.
Das bedeutete, dass man die rosa Linie in einer Landkarte finden musste, ehe der Regen das Kartenpapier aufgelöst hatte.
Leider war das Rosa nur in der Karte und nicht auf den Straßen, weshalb ich die Wegsuche sofort den anderen überließ.
Dann verblieb mir nur noch die Aufgabe ein Tempo zu laufen, das zu irgendeinem Kartenleser passte.
Das bedeutete möglichst schnell, denn die Organisatoren hatten unter 5 Minuten/km praktisch keinen Puls.
Um sie vor dem Erfrieren zu bewahren, war es als Wirklich-Langsamläufer also günstig, an der Leistungsgrenze zu laufen (was wirklich langsam bedeutet möchte ich jetzt offen lassen und nur darauf hinweisen, dass bekanntlich jeder seine eigene Wirklichkeit hat:-)).
Das durfte man nur nicht sagen, denn wer den Lauf nicht zu Trainingszwecken lief, gehörte von Anfang an nicht dazu.
Drei Marathons in drei Tagen sind schließlich für einen Ultraläufer nur gute Aufwärmphasen.
Es sei denn, er läuft sie jeweils in zwei Stunden.
Das wäre sowieso von Vorteil, denn wer als erstes den Bus erreichte konnte am längsten ruhen ;-))
und hatte beim Essen noch freie Auswahl.
Die Letzten bekamen dagegen nur die Reste. (Nein, es ist keiner verhungert!!)
Aber im Grunde hatten sie ja dann sowieso nicht mehr so viel Zeit zu essen.
Es war also alles ganz passend eingerichtet.
Wetter
Auch das mit dem Wetter war letztlich wunderbar.
Irgendjemand zitierte, dass es kein schlechtes Wetter sondern nur schlechte Kleidung gibt.
Da Stephan und ich die einzigen mit schlechter Kleidung waren, störte das die anderen natürlich nicht.
Im Ende war ich aber mit meiner Pferdedecke, die ich vormals als Anorak angesehen hatte, zwischen Schneesturm und Regenschauern ganz zufrieden.
Und mein goldener Slip gefiel auch den meisten:-) Das beständige Umziehen nach jeder Etappe war nämlich auch eine Art Gemeinschaftsaktion.
Die Schnellsten kuschelten sich in aller Regel schon trocken und gesättigt in ihre Sitze, wenn der nächste Trupp ankam.
Dann hatten sie in aller Ruhe Zeit, die diversen Stripteaseaktionen zu beobachten und zu kommentieren.
Extraschleife
Vielleicht war das auch der Hauptgrund ihrer Enttäuschung als sie auf der ersten Etappe von unserer hinteren Gruppe überholt wurden.
Ursache war ein Orientierungsfehler.
An dieser Stelle war der Weg eigentlich unmöglich zu finden, sagte der Hamster.
Nur uns war es eben durch irgendeine Fügung gelungen:-) Dieses Geschick blieb mir aber in keiner Weise treu.
Ich entwickelte zwar bald schon einen detektivischen XE-Blick, aber tückischer Weise gab es Strecken, die nicht mit dieser Markierung versehen waren.
Genau das muss mir just an der letzten Etappe durch den Kopf geschossen sein, als ich plötzlich kein XE entdeckte und dafür so ein hübsches DU.
Jürgen war in diesem Moment als einziger mit mir unterwegs und bestätigte
mich in der Idee: "Jaja genau, nehmen wir doch den DU, das geht bestimmt nach
Duisburg, ist doch egal wie" Erst etliche Kilometer später stellte ich
fest, dass Jürgen längst im AELD (alles-egal-Läufer-Delirium)
war und DU vielleicht
nur "dauernd unterwegs" bedeutete.
Von Duisburg hatten wir uns sinnigerweise immer mehr entfernt, wie uns dann ein Spaziergänger mit hilflosem Blick auf unsere Karte mitteilte.
Als ich fragte wo wir denn etwa wären, landete der Finger des Gefragten gut 5 cm oberhalb unseres Kartenblattes.
Im übrigen hielt er es für ausgeschlossen, dass man diese Strecke zu Fuß bewältigen konnte.
Ich weiß nicht mehr, ob es anstrengender war überhaupt den 115ten Kilometer zu laufen, ohne das Ziel vor Augen zu haben, oder uns von diesem besorgten Spaziergänger zu befreien.
Jedenfalls war es ein echtes Abenteuer.
Und wenn die Leute nicht so bierselig unter ihren Pappnasen "Helau" gerufen hätten, hätte ich auch geglaubt, dass die B8 extra für uns gesperrt war.
Wahrscheinlich waren wir jedenfalls die atemlosesten Faschingsgestalten.
Duft nach gebrannten Mandeln, Zuckerwatte, Bonbons - und unter unseren Füssen grauer Asphalt, der sich Kilometer um Kilometer abspulte.
Reflektionen
Genug Zeit, um noch einmal die letzten Tage zu reflektieren.
Das Laufen, die Landschaft, die Unterkunft.
Und auch die abendliche Gymnastik.
Stretching war eine ernsthaft wichtige Sache, die eben deshalb mehr die Vernunft als die Begeisterung ansprach.
Die Wassergymnastik hatte dagegen wohl ungeahnte Kräfte mobilisiert, sonst hätten wir den endlosen Abenteuer-Umweg sicher nicht so entspannt überstanden.
Und auch die Läufer ohne Zusatzrunde sind schließlich alle wohlbehalten angekommen.
Aber es ist ja auch nett von Rudi, Norbert, Hamster und wem nicht noch alles durchs Wasser getragen zu werden und Hand in Hand das gesamte Schwimmbecken zum Überlaufen zu bringen:-) Im Ende bedeutet "Ultra" nur "Unentwegte Lach-Tradition".
Dieser Tradition machten wir jedenfalls innerhalb und außerhalb des Wassers alle Ehre.
Und als ich schließlich im Endspurt auf den Dusiburger Bahnhof zuschoss, fühlte ich mich wie der Jubel persönlich, der lachend in nahezu 26 Umarmungen aufgefangen wurde.
Finish
Entspannt lächelten wir dann alle in das letzte Foto und nahmen stolz unsere Urkunden entgegen.
Die 131km waren fein säuberlich darauf dokumentiert.
Von den Gesprächen, dem Lachen, den netten Begegnungen, dem ganzen ultra-langen Vergnügen, davon stand allerdings nichts dort geschrieben.
Das wissen nur die, die dabei waren.
Und die eben deshalb immer wieder dabei sein wollen:-)
März 2000
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